Forum Kirche und Theologie:
Kontroverses
Günter Thomas
Alle und jeden immer lieben. Die theologischen Probleme beim neuen Brandmauerziegelbrand
Der Ausgangspunkt
Der hitzig ausgetragene aktuelle Streit um eine angemessene Migrationspolitik scheint auf den ersten Blick eine Auseinandersetzung zwischen Gesinnungsethikern und Verantwortungsethikern zu sein. Der Sozialphilosoph Max Weber hatte vor rund einem Jahrhundert diese zwei Typen der primären ethischen Orientierung unterschieden: So stehen diejenigen, die unabhängig von den erwartbaren Folgen und inmitten von Widerständen unirritierbar an ihren Prinzipien festhalten und ihre reine Gesinnung herausstreichen denjenigen gegenüber, die in einer realistischen Abschätzung der Handlungsfolgen kompromissbereit und um den Preis einer reinen Gesinnung tatsächlich verantwortlich handeln und gestalten.
Doch diese schon klassisch gewordene Unterscheidung verdeckt das dem Streit zugrundeliegende Problem. Nicht zuletzt beanspruchen gegenwärtig alle Beteiligten auf ihre Weise verantwortlich und gemäß ihrer richtigen Gesinnung politisch zu denken und zu handeln. Die Weichen, die in dieser Debatte verschieden gestellt werden, sind andere. Meine Frage in der theo-politischen Gegenwart ist die nach den theologischen Weichen, die den kirchlichen und den parteipolitischen Zug auf bestimmten Gleisen fahren lässt.
Das den Streit befeuernde Grundproblem ist die Spannung zwischen
a) einem universalistisch-normativen Individualismus und
b) einer anzuerkennenden Fragmentarität und Selektivität unter Bedingungen von Endlichkeit und im Rahmen legitimer Eigeninteressen.
Auf Seiten der katholischen wie evangelischen Kirche kommt hinzu, dass in der offenen Konfrontation gegenüber der CDU auf paradigmatische Weise die Unterscheidung zwischen der Kirche als Handlungssubjekt und staatlichen Einrichtungen als Akteure verschliffen wird. Dadurch steigen die moralischen Ansprüche an nicht-kirchliche Organisationsgestalten enorm.
Das Lehrbuchbeispiel
Ein geradezu lehrbuchreifes Beispiel für eine Problemdiagnose bietet die Rede, die die Juristin und Präsidentin der Württembergischen Landessynode Sabine Foth am 1. Februar 2025 auf der Stuttgarter Demonstration (Motto: „Wir sind die Brandmauer gegen Hass und Hetze gegen Rechts“) vor ca. 44000 Menschen gehalten hat. Sabine Foth gehört dem synodalen Gesprächskreis „Offene Kirche“ an und spiegelt darin sicherlich die Mehrheit der gegenwärtigen EKD-Synode. Mit ihrer Rede repräsentierte Sabine Foth mit dem höchsten von Laien zu bekleidenden Amt die Württembergische Landeskirche. Die Demonstration wurde vom „Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Baden-Württemberg“ organisiert und u.a. von der Württembergischen Landeskirche sowie der Diözese Rottenburg-Stuttgart unterstützt. Die politische Strategie scheint mit der pauschalen Formel „gegen Rechts“ die aktuelle CDU/CSU von Friedrich Merz und Markus Söder zu meinen und will diese jenseits der Brandmauer verorten bzw. diesseits dieser Parteien eine Brandmauer bauen.
Ob die offizielle Beteiligung der Württembergischen Landeskirche ein Akt der politischen Klugheit, ein ökonomisch zumindest mittelfristig problematischer Schritt oder eine Sehnsucht nach öffentlicher Anerkennung spiegelt, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Die Frage ist, nochmals formuliert: Wo stecken die theologischen Probleme?
Die Rede offenbart in höchster Prägnanz eine theologische Flucht aus der Politik einer nicht-idealen Welt auf ein theo-politisch utopisches Territorium. Anders formuliert: Es zeigen sich die Probleme beim aktuellen neuen Brandmauerziegelbrand. Zur Debatte steht dabei die enge Verknüpfung von drei Elementen:
1) Ein schöpfungstheologisch begründeter menschenrechtlicher Universalismus
„Als Christin weiß ich, dass Gott alle Menschen nach seinem Bild geschaffen hat. Alle Menschen. Da ist die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung, die Herkunft völlig egal“, so formuliert die Juristin Foth dicht und m.E. überzeugend. Die Menschenwürde eines jeden Menschen ist tatsächlich unantastbar und unverlierbar. Sie ist darum auch nicht debattiertbar. Nicht umsonst beschreibt im Raum des kanonischen Denkens die Urgeschichte Genesis 1-11 die geteilte Welt aller Menschen. Es ist die menschliche Situation vor der Berufung der sogenannten Erzväter. Alle 8,2 Milliarden Menschen auf dieser Erde sind in aller sonstigen Unterschiedlichkeit gleichermaßen Träger dieser gemeinsamen geschöpflichen Würde – die aus gutem Grund in das Grundgesetzt aufgenommen wurde.
2) Ein grenzenloses Barmherzigkeitsethos, das auf einen normativen Individualismus zielt
„Es gibt keine Definition, wer nicht als mein Nächster gilt. Barmherzigkeit, das Herz öffnen für Menschen, die in Not sind und sie nicht abzuweisen, das ist eine wichtige Eigenschaft für uns alle“, so die entscheidende und darum im Vortrag wiederholte und einen Schlusspunkt setzende These. Sie ist eine direkte Entsprechung zu den universal und für alle gültigen Menschenrechten. Grundsätzlich ist jeder Mensch und zwar als einzelner Mensch der Nächste. Die auf Not reagierende Barmherzigkeit sieht und würdigt jedes Individuum als Menschen. Keiner der 8,2 Milliarden ist nicht mein Nächster, so die starke These. Der einzelne Nächste ist die Nagelprobe jeder Moral, jeder Ethik und aller Politik. Jede einzelne Person ist ein Nächster bzw. eine Nächste, die gleichermaßen zu berücksichtigen ist. Alles andere wäre ein fragwürdiger Gruppenegoismus. Alle sind als Individuen Nächste, die grundsätzlich gleichermaßen zu berücksichtigen sind. Die Pointe ist, dass die Barmherzigkeit nicht auf Bittsteller in Not, sondern auf Menschen mit Rechten trifft. Zur Durchsetzung ihrer Rechte dürfen diese auch vielerlei Grenzen überschreiten. Kein unterscheidendes Gruppeninteresse kann die Rechte des Individuums begrenzen. Jegliche Ungleichbehandlung von Menschen wäre Diskriminierung.
3) Das Schleifen der Unterscheidung von Kirche und Staat bezüglich des leitenden Ethos
„Ich bin fassungslos, wie derzeit in Gesellschaft und Politik agiert wird. Für das Verhältnis der Menschen untereinander ist die Nächstenliebe zentral. […] Barmherzigkeit, das Herz öffnen für Menschen, die in Not sind und sie nicht abzuweisen, das ist eine wichtige Eigenschaft für uns alle. […] Nicht nur für Christinnen und Christen. […] … das ist eine wichtige Eigenschaft für uns alle.“ Die Adresse der Forderung von Nächstenliebe, von Barmherzigkeit und grenzenloser Aufnahmebereitschaft ist nicht eine Kirche, die als Salz der Erde oder als Stadt auf dem Berge (Matthäus 5,14) erkennbar sein möchte. Das Barmherzigkeitsethos, das auf einen normativen Individualismus zielt, ist vom ganzen politischen Gemeinwesen und seinen Parteien und Bürgern zu leben. Die Forderung gilt schlicht allen. Formuliert werden die Ansprüche an den Staat und alle seine Bürger. Alle Bürger und alle ihre politischen Einrichtungen sind angehalten – wie es übrigens auch die aktuelle Wahlempfehlung der evangelischen Kirchen formuliert –, Nächstenliebe zu praktizieren.
In der Kombination von allen drei Elementen ergibt sich die Forderung, dass alle Bürger und der Staat (3.) pointiert grenzenlos gegenüber allen Menschen auf dieser Erde (1.) und darin gegenüber jedem Einzelnen gleichermaßen (2.) Nächstenliebe praktizieren. Immer müssen alle und alle Einzelne durch alle geliebt werden – ohne Distinktionen. Das scheint gegenwärtig die kirchliche Botschaft zu sein: „Alle und jeden immer lieben.“
Dieser universalistisch-normative Individualismus kann rein philosophisch ausformuliert und begründet werden. Im journalistischen Raum vertritt ihn m.E. zum Beispiel prägnant Carolin Emcke in ihren Beiträgen. Ihm entspricht aus guten ideengeschichtlichen Gründen ein radikales jesuanisches Liebesethos. In gewisser Weise erfasst dieses Ethos wichtige Aspekte des Reiches Gottes. Dieses Ethos können Menschen, Christinnen und Christen und auch Kirchen zu leben suchen. Die lange Geschichte der christlichen Kirchen ist ein Experimentierfeld, auf dem so manches in dieser Hinsicht mit mehr oder weniger Erfolg versucht wurde. Es gab in der Geschichte der Christenheit beeindruckende Beispiele, über deren Attraktivität man streiten kann. Dieses Ethos leitet in ähnlichen Formulierungen die Äußerungen der Präses der Synode der EKD, Nicole Heinrich. Aus ihm werden aktuell die Ziegel der Brandmauer gegenüber der CDU gebrannt.
Gleichgültig, ob dieses moralische Muster als universalistisch-normativer Individualismus oder als grenzenlose jesuanische Barmherzigkeit vorgetragen wird, manifestiert sich in ihm aber letztlich eine eigentümliche und zugleich entschlossene Flucht auf utopisches Territorium. Wer so denkt, macht sich angesichts der Probleme in dieser Welt faktisch aus dem Staub – aus dem Staub des Alltags dieser Welt. Gegenüber dem universalistisch-normativen Individualismus in seiner kirchlichen Gestalt sind mehrere Gründe geltend zu machen.
Probleme des universalistisch-normativen Individualismus und des grenzenlosen Barmherzigkeitsethos
1. Einschließende und ausschließende Organisation – der sozialphilosophische Realismus
Es gehört zu einem sozialphilosophischen Realismus, dass sich menschliches Leben von Anfang an in Gestalt und mit Unterstützung von Organisation vollzieht. Auch in spätmodernen Gesellschaften sind es funktionierende Organisationen, die durch Unterscheidungen, durch Einschluß und Ausschluß Lebensqualität bereitstellen. Selbst jede Solidargemeinschaft basiert auf einer Unterscheidung von drinnen und draußen – egal wie sie formatiert ist. Auch wer polyamorös lebt, lebt nicht omniamorös. Kein Kindergarten, kein Krankenhaus und auch keine Fahrradwerksatt kann alle aufnehmen und alle Budgets von politischen Organisationen sind begrenzt – und damit ein- und ausschließend. Es sind die vielfältigen Gestalten von Endlichkeit, die jede menschliche Organisation auch ausschließend sein lässt. Jede empirische und nicht nur gedachte Solidargemeinschaft ist eine begrenzte. Selbst das Recht als Erfindung der gewaltbegrenzenden Organisation von Menschen unterscheidet, kategorisiert und kann als Recht niemals die unendliche Vielgestaltigkeit der Individuen berücksichtigen. Aus guten Gründen nimmt ein kanonisches Schöpfungsdenken nicht einfach ein Individuum in den Blick.
Die grenzenlose Barmherzigkeit gegenüber jedem und allen Einzelnen wie auch die säkulare Variante eines universalistisch-normativen Individualismus muss die Rechte des Individuums immer über jegliche Rechte und Bedürfnisse von Organisationen und Kollektiven stellen. Die Lebensqualität, gelebte Humanität wie auch der Schutz der Schwachen wird in spätmodernen Gesellschaften allerdings von funktionierenden Organisationen erbracht. Darum führt dieses Ethos der Verachtung von Unterscheidungen letztlich in einer paradoxen Verwindung in eine Nietzscheanische Welt massiv konfliktreicher Auseinandersetzungen, ja, erbarmungsloser Kämpfe.
2. Die Bigotterie der kirchlichen Forderung grenzenloser Barmherzigkeit
Für viele andere stehend, forderte die Synodenpräsidentin Sabine Foth vom Staat, was selbst die Kirche nicht tut und auch nicht tun kann. Grenzenlose Barmherzigkeit leben auch die Kirchen nicht, die es als Plakat vor sich hertragen. Ohne Krankenkassenkarte gibt es in kirchlichen Krankenhäusern keine dauerhafte Behandlung. Niemand wird aufgrund von Barmherzigkeit der Kirchenleitungen Pfarrerin oder Pfarrer werden. Irgendwann springt im Pfarramt der Anrufbeantworter an – weil menschliche Kraft begrenzt ist. Die Journalistin beim epd würde sich zu Recht wehren, wenn ihr Gehalt auf das Niveau des Bürgergelds abgesenkt würde. Keine Pfarrerpensionskasse wurde bisher zugunsten von Menschen in Not aufgelöst. Evangelische Geistliche und Angestellte legen kein Armutsgelübde. Evangelische Kirchen sind keine Bettelorden. Warum sollte der Staat in Gestalt der Kommunen noch mehr Flüchtlingsunterkünfte bauen, wenn es noch so manche leere Wohnzimmercouch unter den 20 Millionen Protestanten gibt? Auch die Kirchen leben faktisch die Botschaft, dass es wohl doch legitime und notwendige Eigeninteressen zu leben gilt.
3. Politikverachtung
Organisationen bestehen im Kern aus Entscheidungen. So auch unausweichlich alles politische Organisieren. Diese Entscheidungen sind immer auch Unterscheidungen. Sie sind notwendig und fallen, speziell unter Bedingungen verschärfter Endlichkeit, oft schwer. Jegliche Politik in einer nicht-idealen Welt bewegt sich im organisationsgefüllten und schmutzigen Raum zwischen Menschheit und Individuum. Dies ist, lutherisch gesprochen, der Raum der Welt. Der universalistisch-normative Individualismus ist daher ein Instrument, mit dem sich alle politischen Entscheidungen und Unterscheidungen bei Bedarf kritisieren und am Ende alle Entscheider, sofern es opportun erscheint, verachten lassen. Weil man sich nur auf das Individuum und seine Rechte konzentrieren möchte, geraten nicht nur dessen Pflichten aus dem Blick. Das sogenannte agonale Moment der Politik, d.h. dass Politik zu Recht das offene und explizite Aushandeln von harten Interessensgegensätzen zwischen Menschen und zwischen Gruppen ist, gerät völlig aus dem Horizont der moralischen Wahrnehmung und Wertschätzung. Mit diesem Instrument schwingt sich die Kirche zum Richter und möglichen Ächter über alle Entscheider und über alle Interessenskämpfe auf.
Um beim konkreten Problemfeld zu bleiben: Mit dem universalistisch-normativen Individualismus wird die Unterscheidung von Menschenrechten und nationenbezogenen Bürgerrechten im Kern negiert. Darum dokumentiert die Formel „No one is illegal“ eine offene Verachtung von Rechtsstaatlichkeit. „Demolition of boarders“ ist schwerlich anders als eine verfassungsfeindliche Parole zu begreifen – auch wenn sie von christlichen Aktivisten und Aktivistinnen vertreten wird. Hier nur Gesinnungsethiker am Werk zu sehen, wäre naiv. Wer diese Formeln als Grundsatz hat, will das Ende des Rechtsstaats und hätte es, wenn es dazu käme, zu verantworten.
Es ist die Gleichsetzung von Menschenrechten und weitergehenden, die Barmherzigkeit begrenzenden Bürgerrechten, die für die Vertreter dieses Ethos jegliche Debatte über Obergrenzen der Migration verbietet. Die Programmatik „Kirche für andere“ erreicht in dieser Kombination einen dialektischen Umschlagspunkt, an dem sie zu einem operativen Rückzug aus der wirklichen, nicht-idealen Welt führt – bei gleichbleibend hohem moralischem Ton.
Die Tragik bzw. die unbeabsichtigte Folge dieser moralischen Politikverachtung dürfte sein, dass die Flucht auf utopisches Territorium das Territorium der Realpolitik nicht nur kampflos den brutalen Realisten und den Zynikern überlässt, sondern diese geradezu einlädt.
4. Preisgabe des Protestantismus
Mit dem Priestertum aller Gläubigen, der Abschaffung der zwei Stände und der Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen hat der Protestantismus eine nie zuvor praktizierte spirituelle Würdigung des alltäglichen Lebens vollzogen. Die göttliche Berufung realisiert sich im Raum des weit gefassten weltlichen Berufs. Gottesgegenwart ereignet sich nicht nur in den diakonischen und Barmherzigkeit praktizierenden oder den geistlichen Berufungen. Wenn ein tatsächlich grenzenloses radikales Barmherzigkeitsethos das Kirchesein und das Christsein ausmacht, dann ist dies faktisch ein Verrat einer Schlüsseleinsicht des Protestantismus.
Im Alltag der Welt ist ein grenzenloses Barmherzigkeitsethos, eine Nächstenliebe allezeit gegenüber allen, unerfüllbar. Darum spricht aus den Äußerungen all derer, die dieses radikale Ethos öffentlich hochhalten, faktisch eine Geringschätzung und Verachtung all derer, die dieses Ethos in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und in den Gesundheitsberufen als Ideal vor Augen haben, aber täglich daran scheitern. In eben dieser nicht-idealen Welt lässt sich mit dieser Haltung in der gegenwärtigen Tektonik der internationalen Machtpolitik keine Politik machen.
5. Ein Neglect notwendiger theologischer Differenzierungen, oder: der Ausbau theologischer Notbremsen
Bemerkenswert ist, wie viele theologische Notbremsen in diesem rasend schnell fahrenden theologischen Zug ausgebaut wurden:
a) Ein etwas ernüchterndes Verständnis von Sünde, für das, wie die Bischöfin Budde gegenüber Donald Trump bemerkte, die Grenze zwischen Gut und Böse in den Menschen verläuft; b) eine den Menschen heilsam begrenzende Unterscheidung von menschlichen und göttlichen Möglichkeiten, die für Dietrich Bonhoeffer dann auch im Handeln ein Unterscheidung von Letztem und Vorletztem eröffnet; c) eine Unterscheidung von Kirche und Welt hinsichtlich des Auftrages und der Intensität des Wirken des Geistes Gottes; d) eine spirituelle und pragmatische Unterscheidung von nahem Nächsten und fernem Nächsten; e) eine realistische, menschliche Interessen sehende, d.h. würdigende und kritisierende theologische Anthropologie; d) eine die sogenannten Krise der Weisheit spiegelnde Einsicht in die Spannung zwischen Absichten, Tun und Ergebnis etc. Alle diese Themen und Motive würden die verführerische Eleganz von „Alle und jeden immer lieben“ auf das rechte Maß bringen.
6. Das Problem der Repräsentanz. Wer spricht für die evangelische Kirche?
Die klaren politischen Positionierungen der Präses der EKD Nicole Heinrich und der württembergischen Synodalpräsidentin Sabine Foth haben eine geradezu ironische Pointe: Hier sprechen nicht wie in der katholischen Kirche die leitenden Bischöfe für ihre Kirche, sondern hier melden sich die jeweils höchsten protestantischen Laienrepräsentantinnen zu Wort – und dies überraschenderweise mit einer episkopalen Ausschließlichkeit und einer pluralismusfreien Eindeutigkeit eines katholischen moralischen Lehramts.
Die Frage ist: Wer spricht im Protestantismus eigentlich für wen? Wer darf für „die Kirche“ sprechen? Dass die von Sabine Foth auf der Demonstration „Wir sind die Brandmauer gegen Hass und Hetze gegen Rechts“ vertretene ethische Auffassung in dieser Klarheit empirisch die Breite der Mitglieder dieser Landeskirche spiegelt, darf bezweifelt werden. Selbst in der bedrängenden Situation 1934 wurde die Barmer Theologische Erklärung von einer Synode beschlossen. Auch Dietrich Bonhoeffer hoffte für ein „Wort der Kirche“ noch lange auf ein Konzil. Kein katholischer Bischof muss die empirische Kirche repräsentieren – weil er Christus repräsentiert. Wen aber repräsentieren protestantische Führungspersonen?
Die berechtigte Frage ist also: Wo beginnt im Protestantismus die heimliche, wo die offene politische Amtsanmaßung von leitenden Geistlichen und Laien? Anfang Februar 2025 richtete die EKD-Bevollmächtigte, Prälatin Anne Gidion, gemeinsam mit dem Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe ( Katholisches Büro) in Berlin, Prälat Karl Jüsten, ein viel beachtetes Schreiben an alle Abgeordneten. In ihm wandten sie sich direkt und explizit gegen die Einbringung des Zustrombegrenzungsgesetzes durch die CDU/CSU, da es die Bejahung durch die AfD in Kauf nahm. Über die Weisheit der CDU/CSU in dieser Sache mag man streiten. Nur: Inwiefern sprach Anne Gidion für „die evangelische Kirche“? Inwiefern war es mehr als die interessante Privatmeinung der ehemaligen Mitarbeiterin von Johannes Rau? Pikanterweise wurde nach der Intervention der Berliner Prälaten Gidion und Jüsten aus dem Raum der katholischen Bischöfe eine Meinungsvielfalt angezeigt, während auf der Seite der evangelischen Kirchen und ihrer Bischöfinnen und Bischöfe ein dröhnendes Schweigen Einstimmigkeit signalisiert.
Wann ist die performative Behauptung, für die Evangelische Kirche zu sprechen, einfach dreist? Wo beginnt eine aktive Täuschung der Öffentlichkeit und zugleich der Menschen in der Kirche? Hat die evangelische Kirche faktisch doch ein moralisches bzw. ein politisches Lehramt? Aber wie ließe sich dies begründen? Und was heißt es für die, die anderer Meinung sind? Werden sie eingeladen, zugunsten moralischer Reinheit die Kirche zu verlassen? Oder sollten umgekehrt die Vertreterinnen von Eindeutigkeit doch katholisch werden? Ist dies eine subtil-zeitgemäße Form der Kirchenzucht, d.h. ist dies eine Aufforderung, als CDU/CSU-Wählerin oder engagierte Politikerin dieser Parteien aus der Kirche auszutreten? Für die Zukunft der Volkskirche in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft wird mit diesen Fragen kein nebensächliches Problemfeld markiert.
Solange diese Fragen für die Evangelischen Kirchen nicht hinreichend geklärt sind, steht die Frage im Raum, warum die Positionierungen „der Kirche“ z.B. durch Nicole Heinrich, Sabine Foth oder auch Anne Gidion tatsächlich mehr als mit Chuzpe vorgetragene persönliche Meinungen sind.
Wo steckt also das Problem, wo möglicherweise die Lösung?
1. Anerkennung der Endlichkeit
Als mit Gott versöhnter Mensch in einer noch unerlösten Welt als Mensch zu handeln, bedeutet für Christen unter vielfältigen Bedingungen von Endlichkeit zu dilettieren. Endlichkeiten der Aufmerksamkeit, der Perspektiven, der Motivation, der Ressourcen, der Einflussnahme und der Reichweite von Handlungen – von alldem sind Christen nicht befreit. Als Einzelne, als Kirche, aber auch als Staat handeln endliche Akteure. Diese Endlichkeit zu überspielen zugunsten überaus großer Visionen einer neuen Welt, ist eine der Versuchungen von Kirchen nach der Auferweckung des Gekreuzigten, dem Anbruch einer neuen, von der Macht des Geistes befeuerten Welt. Die Anerkennung der vielfältigen Gestalten einer schmerzhaften und bitteren Endlichkeit ist in den persönlichen, den kirchlichen, aber auch den politischen Gegenwarten ein Akt notwendiger Ehrlichkeit. Um die damit einhergehende Grenzlinie der selbstlosen Hilfehandlungen aus Barmherzigkeit wird mit guten Gründen intensiv gestritten. Dennoch überwindet die Anerkennung von Endlichkeiten die vermeintlich erschöpfende Alternative „Alle und jeden immer lieben“ oder „Lumpen, Egoisten und Rechte“. Wenn die Kirche in ihren Forderungen an den Staat faktisch unendliche Ressourcen auf Seiten dieses Staates unterstellt, so offenbart dies regressive-kindliche Phantasien.
2. Anerkennung legitimer Eigeninteressen
Den Rechten des Einen entsprechen die Pflichten des Anderen. Hierdurch leben Menschen in weitgespannten Netzen von Verpflichtungen und Rücksichtnahmen. Darüber hinaus leben Christen, Kirchen und auch weitere Organisationen eines Sozialwesens legitime Eigeninteressen. Legitime Eigeninteressen kann man verbal bestreiten. Wenn man sie aber dann doch lebt, führt dies in die oben genannte Krise der Glaubwürdigkeit. Auch nicht-natürliche Personen wie Unternehmen haben legitime Eigeninteressen, sonst verschwinden sie.
Wie schon die Anerkennung von Endlichkeiten ist auch die Anerkennung von Eigeninteressen ein basaler Akt eines ehrlichen Realismus. Eine radikale Verleugnung von Eigeninteressen als tatsächlich grenzenlose Hingabe und Barmherzigkeit – eben „Alle und jeden immer lieben“ – ist eine wahrhaft göttliche Aufgabe, ist der jesuanische Lebensakt, der am Kreuz endet. Es ist ein „Sacrifice“, das Nachfolgende nicht vollbringen können und müssen. Christen sind dazu befreit, es nicht imitieren zu müssen. Sie sind zur Liebe in den Grenzen des Menschlichen berufen.
Wird dies anerkannt, dann wird damit nicht jedem Chauvinismus Tor und Tür geöffnet. Vielmehr kann gemeinsam gefragt werden: Wo beginnen und wo enden die legitimen Eigeninteressen von individuellen Christinnen und Christen, wo die einer verfassten Kirche? Was kann und darf, was muss die Kirche hier und heute an einem Verzicht von Eigeninteressen einem Staat und seinen Bürgern zumuten? Wo kann sie nur ohne Zumutungen an den Staat zeichenhaft leben? Wie unterscheiden sich Kirche und Staat in dieser Grenzziehung? Welchen Grenzverlauf an nationaler Gastlichkeit kann die Kirche fordern, welchen kann sie anderen nicht zumuten, sondern nur selbst exemplarisch leben? Wann und wo soll Nächstenliebe im permanenten Ringen um die Durchsetzung von Interessen die erste Handlungsorientierung sein? Welche Eigeninteressen dürfen, ja, müssen auch konfliktaffin durchgesetzt werden? Man denke nur an Gewerkschaften! Darüber wird an vielen Orten und auf vielen Problemfeldern gestritten. Das reale Grundproblem wird aber im pauschalen Kampf „gegen Rechts“ und mit der Formel „Alle und jeden immer lieben“ bzw. „Barmherzigkeit gegenüber allen und jedem“ schlicht mit einer christlichen Variante des Linkspopulismus übergangen. Im Dual „Humanität oder Barbarei“ werden fremde und eigene Interessen übersehen, verschleiert und negiert.
In welche Praktiken der transnationalen Solidarität lassen sich Christen im Geist Gottes locken – trotz einer Anerkennung legitimer Eigeninteressen eines historisch sich entwickelnden Gemeinwesens? Welche kirchlichen Forderungen kann und muss der Nationalstaat oder eine Staatengemeinschaft mit aller Macht zurückweisen dürfen? Damit wird nicht jeder Egoismus legitimiert, aber zugleich auch nicht jedes nationalstaatliche oder auch europäische Eigeninteresse moralisch disqualifiziert.
Die für den öffentlichen und institutionellen deutschen Nachkriegsprotestantismus charakteristische Programmatik einer „Kirche für andere“ (D. Bonhoeffer) hat mit der variantenreich vorgetragenen Auffassung „Alle und jeden immer lieben“ bzw. mit dem universalistisch-normativen Individualismus einen Tipping-Point erreicht. An ihm entscheidet sich, ob die evangelischen Kirchen sich faktisch aus der Politik der „dirty hands“ auf das utopisches Territorium eines Wolkenkuckucksheims zurückziehen – um empörungsintensiv und mit hohem Ton die Vorgänge in der wirklichen, nicht-idealen Welt zu kommentieren. Kirchliche Koalitionen mit politischen Illusionisten dürften zweifellos Beifall ernten – ohne allerdings wirklich Menschen zu dienen.
3. Ethische Perspektiven – Zumutbarkeitsschwellen, mobile Grenzen und Gleichnisse
Die Grenzen von Organisationen und Verantwortungsräumen sind verschiebbar, aber nicht verabschiedbar. Für das Handeln der Kirche ist leitend, dass sie theologisch in ihrem Handeln von Ostern, von der Auferweckung des Gekreuzigten herkommt. Dennoch vollzieht sich ihr Sprechen, Handeln und Erleben in einer Welt, in der sie mit allen Christen weltweit mit dem Vaterunser aus guten Gründen immer noch betet: „… und erlöse uns von dem Bösen“. Die berühmte, gegen die nationalsozialistische Ideologie gerichtete Barmer Theologische Erklärung aus dem Jahr 1934 verortet das Handeln der Kirche „in der noch nicht erlösten Welt“ (Barmer Theologische Erklärung, These 5). Bildlich gesprochen ist die christliche und kirchliche Existenz eine im Zwielicht der Morgendämmerung: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.“ (Röm 13,12).
Dieser grundlegenden, aber doch mit einer Zielrichtung versehenen Ambivalenz entspricht es, dass für sehr verschiedene Verantwortungsräume und Organisationen das Verhältnis zwischen geregeltem Eigeninteressen und begrenzter Barmherzigkeit pragmatisch ausgehandelt werden muss. Das Ergebnis hängt von vielen Faktoren ab. Die Zurücknahme von geregelten Eigeninteressen wird eher möglich sein in interaktionsnahen Verantwortungsräumen als in komplexen Organisationen, die sich in wenig kontrollierbaren und hoch kompetitiven Feldern bewegen. Ein Handeln nach der Bergpredigt, für Humanität und mit Barmherzigkeit lässt sich realistischerweise nicht von komplexen nicht-natürlichen Personen in intensiven Interessenskämpfen erwarten. Auszuhandeln ist darum eine politische Ethik der Zumutbarkeitsschwellen – und dies betrifft selbstverständlich auch die Fragen nach einer Staatlichkeit in kontrollierten und geschützten Grenzen.
Jegliches Leben, und so auch das christliche Leben, vollzieht sich in einer Mehrzahl von Dimensionen: die leiblich-biologische, die lokal-räumliche, die soziale, die kulturell-reflexive und nicht zuletzt die potentiell religiöse Dimension machen zusammen die polyphone Fülle des Lebens aus. In jeder dieser Dimensionen des individuellen wie gemeinschaftlichen Lebens müssen die Grenzen zwischen selbstloser und grenzenloser Barmherzigkeit einerseits und legitimen und durchsetzungsbereiten Eigeninteressen andererseits kompromissbereit ausgehandelt und justiert werden.
Weil der Staat ebenso wenig „die Bestimmung der Kirche erfüllen“ kann wie die Kirche „selbst zu einem Organ des Staates werden“ kann (Barmer Theologische Erklärung, These 5), kann die Kirche vom Staat nicht verlangen, wozu sie selbst beauftragt ist. Gleichwohl können einzelne Christen, Gemeinde oder Kirchen exemplarisch verdeutlichen, was es heißt, als endliche Menschen inmitten von Akteuren mit legitimen Eigeninteressen Gleichnisse des Reiches Gottes zu bauen. Genau damit zeigen sie für die Politik Vektoren in Richtung von Humanität und Gerechtigkeit auf. Im Zentrum steht dabei – und dies ist der nicht aufzugebende Impuls der Reformation – die Ermächtigung von Bürgerinnen und Bürgern wie auch Politikerinnen und Politikern für die verantwortliche Arbeit in den Ambivalenzen einer nicht-idealen Welt. Die zur Politik befähigende Kirche ist nicht der anmaßende Schiedsrichter auf der Seitenlinie.
Der Bonhoeffersche Handlungsimpuls „Kirche für andere“ ereignet sich für Protestanten im mühevoll am Laufen zu haltenden Räderwerk demokratischer, funktionierender, kompromissbereiter und entwicklungsoffener, und ja, auch national formatierter Rechtsstaatlichkeit. Dazu vergegenwärtigen die Kirchen selbstkritisch und anderen eine Stimme gebend einen transnationalen ökumenischen Horizont.
Eine solche Haltung würde die Temperatur im Ofen für den neuen Brandmauerziegelbrand dramatisch reduzieren – und dies auch dann noch, wenn über die Verschiebung der vielen Grenzen des Eigeninteresses heftig debattiert würde.
4. Am Anfang und am Ende: Gott
Nicht zuletzt berührt eine hoffnungsvolle und nicht bittere Akzeptanz von Endlichkeit, Grenzen und Eigeninteressen die Gottesfrage. Wer im Grunde der Auffassung ist, dass Gott keine Hände hat außer den unseren und tatsächlich „wir“ als politisch Engagierte es richten müssen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit angesichts der Grenzenlosigkeit der Not und der starken Eigeninteressen anderer von einem Strudel der Selbstradikalisierung erfasst werden. Umgekehrt betrachtet, spiegelt die Aufforderung „Alle und jeden immer lieben“ eine Selbstzuschreibung, die von Gott und Jesus Christus geliehen bzw. geerbt wurde. In dieser Aufforderung dokumentiert sich ein so tiefgreifender wie problematischer Prozess einer kulturellen Säkularisierung und gleichzeitigen kirchlichen Selbstsäkularisierung. Die Schwere der Welt können Christen vor Gott vergegenwärtigen, aber nicht selbst tragen. Die Lasten aller kann weder die Kirche noch ein der Humanität verpflichteter Sozialstaat tragen.
Wer dagegen die eigene geschöpfliche Endlichkeit im Gegenüber zu Gott zu erkennen vermag, wird nicht sich selbst in die Verantwortungslosigkeit entlassen, sondern in endlichen und begrenzten Räumen Variationsspielräume der Barmherzigkeit suchend Verantwortung gestalten. „Alle und jeden immer lieben“ – dies müssen und dürfen Christenmenschen Gott überlassen. Darin dürfen sie sich von ihren kulturellen und politischen Umgebungen unterscheiden.
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