Forum Kirche und Theologie:
Kontroverses
Ralf FRisch
Das kleine gallische Dorf einer politisch milieuverengten Kirche.
Not, Elend und Verheißung des Protestantismus nach dem Berliner Brandmauerbrandbrief
1) Volkskirche ohne Volk, aber mit politischem Lehramt
Am 28. Januar 2025 übermittelten Karl Jüsten und Anne Gidion den Mitgliedern des Deut-schen Bundestags eine „Gemeinsame Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin – und der Bevollmächtigten des Rates der Evangeli-schen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union zum Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung des illegalen Zustroms von Drittstaats-angehörigen nach Deutschland“. Mit dieser Stellungnahme distanzieren sich die beiden Kirchen deutlich von den Parteien, die das C im Namen tragen. Faktisch haben sie damit eine Brandmauer gegen die CDU/CSU errichtet, also erklärt, dass keine politische Partei, die nicht grüner oder roter Couleur ist, für Christen wählbar ist.
Beredter als die Stellungnahme selbst dürfte das Schweigen der Kirchenleitungen danach sein. Die Berliner Verlautbarung ist abgesehen von mehr oder weniger prominenten Einzelstimmen weitestgehend unwidersprochen geblieben. Insbesondere die evangelische Kirche hat durch ihre Solidarisierung mit Demonstrationen gegen „rechts“ – also neuerdings unverhohlen auch gegen die CDU/CSU – ein zusätzliches Signal gesetzt, wes politischen Geistes Christen zu sein haben, wenn sie sich politisch engagieren oder den Gang zur Wahlurne antreten. Faktisch hat die evangelische Kirche damit alle Vorurteile konservativerer oder liberalerer Medien bestätigt, dass es in dieser Kirche zwar kein theologisches, dafür aber ein politisches Lehramt gibt. Eindeutig und ohne Ambiguitätstoleranz beginnen sich also die Fronten zu schließen. Evangelisch sein heißt, links-grün zu sein und sich als Werkzeug links-grüner Politik zu begreifen – zum Beispiel so, dass man dieser Tage an regierungsfinanzierten Demonstrationen sogenannter Nichtregierungsorganisationen teilnimmt. Evangelisch sein heißt, für die Demokratie auf die Straße zu gehen. Die wird allerdings nur von Parteien repräsentiert, die im Farbspektrum links von der CDU/CSU angesiedelt sind. Anderswo gibt es augenscheinlich keine Demokratie und keine Demokraten. Selbst wenn das Volk der Volkskirche es anders sähe, würde es aus links-grüner kirchlicher Sicht irren, was darauf hindeutet, dass das Volk gerade denjenigen suspekt sein könnte, die das Wort Demokratie am lautesten im Munde führen. Wenn sie sich selbst beim Wort nehmen würden, müssten sie eigentlich gegen, nicht für die Demokratie demonstrieren. Wenn sie ehrlich zu sich selbst sind, können sie schlicht kein Interesse daran haben, dass diejenigen wählen dürfen, die das Falsche wählen, nachdem alle Umerziehungsversuche gescheitert sind. Die Brandmauer trennt ja eben das gute vom bösen Volk, die Anständigen von den Unanständigen, „uns“ von „denen“, das juste milieu der wahren Christen von jenen, die auf gar keinen Fall dazugehören dürfen.
Für die Volkskirche heißt das, dass aus ihr eine gesellschaftspolitisch in hohem Maße milieuverengte Kirche geworden ist. Sie ist nicht mehr Kirche für das ganze Volk, sondern nur für diejenigen, die sich legitimerweise als Volk fühlen dürfen sollen. Diese milieuverengte Kirche ist natürlich dennoch und um so mehr der Überzeugung, die Mehrheit und die Wahrheit zu repräsentieren. Eine solche Milieuverengung bei gleichzeitigem politischen Absolutheitsanspruch hat es im europäischen Christentum noch nie gegeben – und im Rest der Welt ohnehin nicht.
2) Das ABC einer Arithmetik der anderen Art
Am 10. Februar 2025 war in der Ausgabe Nr. 027 des epd-Landesdienstes Bayern eine so tendenziöse wie aufschlussreiche Meldung zu lesen. Sie stand unter der Überschrift „Konservativer Arbeitskreis Bekennender Christen (ABC) kritisiert Kirchen-Stellungnahme scharf“ und bezog sich auf die „Gemeinsame Stellungnahme der Kirchen zum Zustrombegrenzungsgesetz“. In der Pressemeldung hieß es, der ABC beklage, dass sich die beiden großen Kirchen „von ihrem eigentlichen Auftrag entfernt haben … und kein einziges Mal Bezug auf den Herrn der Kirche, Jesus Christus, nehmen“. Dass aus dem evangelikalen Frömmigkeitsspektrum derlei verlauten würde, war erwartbar. Erwartbar war auch, dass der um keine Schlagfertigkeit verlegene bayerische Ministerpräsident Markus Söder sich zur Brandmauer der Kirchen gegen die CDU/CSU äußern würde. Man möge sich, so Söder im Rahmen des CSU-Parteitags in Nürnberg, kirchlicherseits vor Augen halten, „wer am Ende noch an der Seite der Institution Kirche“ stehe. Und weiter: „Vielleicht kümmert ihr euch – das sage ich jetzt als Christ – manchmal auch um die einen oder anderen mehr christlichen Themen.“ Ebenfalls erwartbar war, dass Söders Kirchenkritik von Seiten der evangelischen Kirchenleitungen mit dem vielsagenden Hinweis kommentiert werden würde, man werde sich dazu nicht äußern. Und erwartbar war natürlich auch, dass der epd für die Kritik des ABC nur Süffisanz übrig hatte, da bekennendes Christentum für die evangelischen Leitmedien der Berliner Republik üblicherweise als Indiz einer bemitleidenswert ewiggestrigen Gesinnung gilt. Wie auch immer man zum evangelikalen Theologietypus stehen mag: die beiden letzten Sätze der epd-Meldung über den ABC sind dennoch bemerkenswert. Sie offenbaren wie durch ein Brennglas das Selbstverständnis der milieuverengten Kirche, die ihre eigene Position für die alternativlos christliche hält. Die beiden Sätze lauten wie folgt: Im Arbeitskreis Bekennender Christen „haben sich Verantwortliche aus rund 20 kirchlichen Gemeinschaften, Verbänden und Werken vorrangig aus dem charismatischen, hochkirchlichen und pietistischen Spektrum der Landeskirche zusammengetan. Nach epd-Informationen besteht der enge Unterstützerkreis aus wenigen Hundert Personen. Die bayerische Landeskirche hat aktuell rund 2,1 Millionen Mitglieder.“
Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, was hier gesagt wird. Dass nämlich abgesehen von ein paar Hundert verirrten konservativen und fundamentalistischen Christen rund 2,1 Millionen Mitglieder für die Berliner Stellungnahme, also gegen den migrationspolitischen Kurs der CDU/CSU, und damit faktisch rotgrün sind. In dieser Auffassung kommen Wunschdenken und Wirklichkeitsdeutungshoheitsanspruch zusammen. Diejenigen, die ein partikulares politisches Segment für das Ganze halten und im Gestus dieser Gewissheit für „unsere“ – also ihre – Demokratie auf die Straße gehen, sind felsenfest davon überzeugt: „Wir sind das Volk.“ Und: „Wir sind mehr.“
Dass eine kirchliche Minderheit sich für die Mehrheit hält und eine gesellschaftspolitisch gesinnungsverengte Kirche glaubt, sie sei Volkskirche, rührt sicherlich auch davon her, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seit Jahren erfolgreich den Anschein zu erwecken vermag, in politischer Hinsicht die öffentliche Meinung widerzuspiegeln. Dass die rhetorische Radikalität der Demonstrationen gegen Rechts zunimmt und dass immer mehr Menschen als „rechts“ etikettiert werden, trägt aber gewiss auch Züge eines Verzweiflungsaktes. Man ahnt und spürt angesichts des Gegenwinds der Realität ja vielleicht doch, dass die eigene Deutungshoheit der politischen Lage gefährdet ist. Daher muss man die realpolitisch bürgerlichen Gefährder dieser Deutungshoheit ins rechte Lager verschieben, um sich selbst um so alternativloser als gesellschaftliche Mitte präsentieren und einem Linksbündnis zur Mehrheit verhelfen zu können.
3) Die falsche Pflanze und das falsche Pferd
Eigenartigerweise scheint es nicht nur verantwortungsenthobenen Gesellschaftsromantikern, sondern auch den Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträgern in den Kirchenleitungen an Realitätssinn zu gebrechen – und zwar so sehr, dass diejenigen, die eigentlich souverän im Sattel des organisationsbewahrenden Handelns sitzen sollten, auf das falsche Pferd setzen. Befremdlich ist das CDU/CSU-Bashing also vor allem deshalb, weil es so wenig Sinn für Systemerhaltungslogiken offenbart. In der Regel starren die kirchenleitenden Funktionäre dieser Tage wie Kaninchen auf die Schlange der Kirchenaustrittszahlen. Diese Zahlen scheinen aber angesichts der dezidierten Positionierung gegen die CDU/CSU gänzlich aus dem Blick geraten zu sein. Dabei weiß jeder, der in Bayern bis drei zählen kann, dass die Volkskirche am Ende wäre, wenn alle CSU-Wähler der stillschweigenden Aufforderung des Brandbriefs von Frau Gidion und Herrn Jüsten und der Demonstrationen gegen rechts tatsächlich nachkommen und aus der Kirche austreten würden. Mit dem linksgrünen Milieu ist mittel- und langfristig keine Kirche zu machen. Man gießt sozusagen die falsche Pflanze, wenn man die hofiert, deren politische Überzeugungen man teilt, die aber ihrerseits nicht im Traum auf die Idee kämen, christliche Glaubensüberzeugungen zu teilen und eher die Staats-Kirchen-Verträge aufkündigen werden als sich zur Kirche zu halten.
Die Phantasie, dass in einer sozusagen politisch gesundgeschrumpften Kirche am Ende nur diejenigen übrigbleiben und der Kirche die Treue halten, mit denen man gesellschaftspolitisch flirtet, ist eine Fata Morgana. Übrigbleiben werden die „Frommen“ – egal ob sie eher pietistisch, evangelikal oder lutherisch-hochkirchlich gesinnt sind oder zu evangelischen Bruder- und Schwesternschaften gehören. Übrigbleiben werden konservative, gerne als traditionalistisch oder provinziell gescholtene Christen. Und übrigbleiben werden diejenigen sozialdemokratischen, grünen und liberalen Christen, für die Verantwortung vor Gott nicht nur eine Metapher von Menschen ist, die ihr gesellschaftspolitisches Handeln mit dem rettenden Handeln des Heilands verwechseln.
Wenn die Kirchenleitungen der Verantwortung für ihre Kirche und für deren Mitglieder gerecht werden wollen, sollten sie erkennen, wie verhängnisvoll es ist, diejenigen zu diskreditieren und zu vergraulen, von denen diese Kirche lebt, und die zwar treu sind, weil man ihrer Überzeugung zufolge nun einmal nicht aus der Kirche austritt, aber die ihr irgendwann vielleicht doch den Rücken kehren werden, weil sie die Nase voll haben.
4) Asterix, Obelix, die Donatisten und Dietrich Bonhoeffer
Womöglich ist die Abneigung gegen den politischen Konversativismus und die beschwichtigende Zerstreuung der wirtschafts-, sozial-, geo- und migrationspolitischen Ängste, Frustrationen und Überforderungen einer sehr großen Bevölkerungsmehrheit aber ja wirklich tiefer gesinnungsethischer Natur. Dann wäre die Errichtung einer neuen Brandmauer gegen CDU und CSU weder organisationslogisch blind noch wäre sie töricht. Sie wäre vielmehr Ausdruck einer ganz bewusst beabsichtigten ekklesiologischen Transformation von der einstigen Volkskirche der Mehrheit zur politischen Minderheitskirche. Sie wäre sozusagen der Rückzug einer selbsternannten Elite hinter die Barrikaden eines kleinen gallischen Dorfs von Gerechten.
Man muss allerdings gar kein Asterix-Comic zur Hand nehmen, um die kirchliche Gegenwart zu entschlüsseln. Man könnte auch einen Blick auf die Theologiegeschichte werfen. Dann würde in der neuen Brandmauer die alte donatistische Drift sichtbar. Das Liebäugeln mit einer politmoralisch-rigoristischen kirchlichen Gesinnungsgemeinschaft würde die jahrtausendealte Versuchung der Kirche offenbaren, nicht mehr eine durchwachsene volkskirchliche Angelegenheit von gnade-, barmherzigkeits- und rechtfertigungsbedürftigen Sündern, sondern eine Kirche der Reinen und Guten sein zu wollen. Es würde eine Kirche vor Augen führen, die sich hinter Brandmauern zurückzieht, um dort wahre Kirche sein und den Traum einer makellos humanistischen Gesellschaft weiterträumen zu können. Wenn man wollte, könnte man die Geschichte der Kirche als Geschichte dieses Traums erzählen und nicht wenige Kirchenspaltungen als Konsequenzen dieses Traums deuten.
Auch Dietrich Bonhoeffer träumte in seinen letzten Briefen aus dem Gefängnis diesen Traum. Im Sommer 1944 gelangte er zur Überzeugung, dass Christenmenschen in einer aufgeklärten Welt leben müssten, als gebe es Gott nicht. Das hieß für Bonhoeffer auch, dass Transzendenz ganz anders begriffen werden müsse als gewohnt. Und zwar so, dass Transzendenz nicht mehr bedeutet, sich auf Gott hin zu überschreiten und aus Gottes barmherziger Selbstüberschreitung heraus zu leben. Echte Transzendenz, so Bonhoeffer, ist etwas ganz Anderes. Sie wird in Menschen sichtbar, die sich auf andere Menschen hin transzendieren, also zu ihnen hinübergehen, um ihnen beizustehen. Für Bonhoeffer ist die Kirche echter Transzendenz daher eine Kirche für Andere. Gott wird beim späten Bonhoeffer letztlich zu einem Geschehen der Zwischenmenschlichkeit.
Am 5. Mai 1944 schrieb Bonhoeffer an seinen Freund Eberhard Bethge, es gebe in der Kirche wichtigere Dinge als Innerlichkeit, Metaphysik, Religion und die Frage nach dem Seelenheil. „Ist nicht“, so Bonhoeffer, „die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem?“ Muss nicht das Christentum sein religiöses Gewand ablegen und zu einem religionslosen Christentum werden? Aus der Perspektive des Anthropozän, in dem Gott für tot erklärt und der Mensch die Antwort auf alle Fragen ist, erscheinen Bonhoeffers religionskritische Gedankenexperimente als folgenreiche Weichenstellungen. Sie setzen nämlich den Protestantismus auf das Gleis einer postchristlichen sozialethisch-politischen Identität, die weltgestaltungsvergessene Jenseitsvertröstungen hinter sich lässt und das Diesseits als einzige und letzte Wirklichkeit begreift.
Es ist unschwer zu sehen, dass man diese sozialethisch transformierte Theologie noch weiter transformieren kann, wenn man sie ins Licht von Bonhoeffers Widerstandsbiographie rückt und als Widerstandstheologie zu Ende denkt. Dann stehen der politischen Radikalisierung einer Kirche, die sich als Widerstandsgemeinschaft definiert, Tür und Tor offen.
Seit dem Ende des Dritten Reichs gehört es denn auch zum Narrativ der evangelischen Kirchen, sich in der Tradition der Barmer Theologischen Erklärung ein prophetisches Wächteramt zuzuschreiben und sich auch in politisch ungefährdeteren, wirtschaftlich, sozial und geopolitisch stabilen Zeiten im Widerstand zu fühlen und im Geiste Bonhoeffers dem Rad des Ungeistes in die Speichen zu fallen. Dieses Narrativ feiert im hohen Ton der Nie-wieder-ist-jetzt-Rhetorik engagierter Christen derzeit besorgtere und empörtere Urstände denn je.
Zweifellos ist es für eine kirchenaustrittsgebeutelte Kirche weniger narzisstisch kränkend, sich in ein solches Narrativ einzuschreiben, als zusehen und erleiden zu müssen, wie man vom Rad der Geschichte einfach überrollt wird. Wer in den Widerstand geht, fällt nicht einfach sang- und klanglos der Säkularisierung, dem Traditionsabbruch oder der demographischen Erosion als deren „victim“ zum Opfer. Er ist vielmehr „sacrifice“, indem er einsam, wahrhaftig, heroisch und aufrecht dem Sturm widriger Zeitläufte trotzt.
Es könnte daher sein, dass die Strategie des Rückzugs einer politisch prophetischen Widerstandskirche ins kleine gallische Dorf eine Art Flucht nach vorn darstellt, die den Stier drohender Bedeutungslosigkeit bei den Hörnern zu packen versucht. Die Kirche des kleinen gallischen Dorfs ist also ein psychohygienisch hochattraktiver Ort. Denn sie ist nicht die Kirche der übriggebliebenen Verlierer, sondern der Heilige Rest. Sie ist nicht passiv und wehrlos zu einer Minderheit geworden. Sie leistet vielmehr proaktiv, politisch überzeugungsgeeint und kompromissbereinigt Widerstand gegen den unbelehrbaren, politisch verirrten Lümmel Realität und gegen den Lümmel Volk.
5) Das eigentliche Problem: Die Politik sticht immer die Theologie.
Um nicht den Anschein zu erwecken, dieser Text sei das politische Klagelied eines Theologen, der sich darüber ärgert, dass die Kirchenleitungen politisch anders ticken er selbst, schiebe ich an dieser Stelle eine theologisch entscheidende Zwischenbemerkung ein. Ob das kleine gallische Dorf schwarz, grün, braun, gelb, rot, blau, dunkelrot, rosa oder welcher Couleur auch sonst ist, macht keinen Unterschied für die theologische Beurteilung des Phänomens der politischen Milieuverengung der evangelischen Kirche. Es geht mir gerade nicht um die Frage, welche Politik die bessere Politik ist, das heißt wes politischen Geistes die Kirche zu sein hat, welche Politik sich zu Recht mit dem Buchstaben C schmücken darf und welche politischen Karten in der evangelischen Kirche Trumpf sein sollten und welche nicht.
Denn darin besteht ja gerade die Not und das Elend der politisch milieuverengten Kirche, dass im Kartenspiel der Argumente die Politik immer die Theologie sticht und dass sich die Kirche Jesu Christi nicht mehr als theologische, sondern etsi Deus non daretur nur noch als gesellschaftspolitische Akteurin begreift. Diese Akteurin macht keinen Hehl daraus, partout keine geistliche Akteurin mehr sein zu wollen. Sie hat den Unterschied zwischen dem Reich Gottes und dem Reich der Welt längst kassiert. Sie identifiziert den Heiligen Geist Jesu Christi mit der Geisteskraft des politisch geistesgegenwärtigen Menschen. Sie tappt in die Falle, vor der die Verwerfung der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung warnt. Sie will die Fortsetzung von Politik mit anderen, vielleicht sogar mit denselben Mitteln sein. Sie sehnt sich danach, zur staatsfinanzierten Nichtregierungsorganisation, also zu einer neuen Form der Staatskirche zu werden. Die Barmer Theologische Erklärung kommentiert dieses Ansinnen wie folgt: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“
6) Der verschwundene Miraculix und der rettende Unterschied
Kehren wir zurück ins kleine gallische Dorf der Kirche unserer Zeit. Deren Problem liegt zum einen darin, dass der politische Feind, gegen den sie kämpft, nicht der altböse Imperator ist. Sie kämpft vielmehr faktisch gegen ihr eigenes Kirchenvolk. Zum anderen liegt das Problem darin, dass die Rechnung der Widerstandskämpfer nicht aufgeht. Und zwar nicht etwa deshalb, weil der Heilige Rest, der am Ende des Mitgliederschwunds übrigbleibt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein linksgrüner Rest sein wird. Die Rechnung ginge auch dann nicht auf, wenn tatsächlich nur eine linksgrüne Minderheit übrigbliebe. Denn die Rechnung ist ohne den Wirt gemacht. Der Vergleich zwischen der Widerstandskirche des Jahres 2025 nach Christus und des fiktiven Jahres 50 vor Christus der Asterix-Comics hinkt an einer entscheidenden Stelle. Die Gallier verfügen über einen Zaubertrank, der ihnen übermenschliche Kräfte verleiht. Die politisch milieuverengte Kirche des 21. Jahrhunderts in Deutschland glaubt zwar ebenfalls, mit dem Glauben an den grenzenlos philanthropen Humanismus des im Grunde guten Menschen eine solche Wunderwaffe zu haben. Aber sie hat sie nicht. Ihr geht buchstäblich der Sprit aus. Ihre spirituellen Kessel sind leer, weil Miraculix der Druide spurlos verschwunden ist. Und so wird sie an geistlicher und theologischer Auszehrung im Burnout der Erschöpfungsdepression ohne jede echte metaphysische Hoffnung und ohne einen quantitativen oder qualitativen Silberstreif am Horizont enden. Und zwar deshalb, weil sie zwar politisch engagiert, aber ein Kind des theologischen Nihilismus ist. Die Römer unserer Zeit, wer auch immer sie sein mögen, werden mit diesem Nihilismus leichtes Spiel haben. Denn er ist wurzellos. Er ist weder im Himmel noch in einer tragfähigen Konzeption politischer Realität geerdet, sondern unter einem leeren Himmel allein in der eigenen Selbstwirksamkeitsillusion und Selbstbegeisterung verankert und gefangen. Mit anderen Worten: Er ist nackt wie der Kaiser im Märchen.
Obelix würde sagen: „Die spinnen, die Gallier!“ Sie spinnen deshalb, weil sie Freund und Feind verwechseln und weil ihnen der gesunde theologische Menschenverstand abhandengekommen ist, der außerhalb der Echokammern des juste milieu, also beispielsweise in der oft diskreditierten kirchlichen Provinz, noch halbwegs intakt ist. Man weiß dort nämlich etwas, was man in der Filterblasenprovinz des kleinen gallischen Dorfs offenbar vergessen hat: dass nämlich die Kirche Jesu Christi als Kirche nur überleben kann, wenn sie Ernst damit macht, dass Religion und Politik zweierlei sind, dass es zur Realität einer gefallenen Schöpfung gehört, dass Menschen nicht so gut sind, wie sie glauben, und dass sie am Ende einzig und allein auf die Gnade Gottes angewiesen sind. Vor allem weiß man, dass man einander braucht und dass Gemeinschaften nur funktionieren können, wenn Geistesgaben einander ergänzen. Man weiß, dass Leben „Leben und Leben Lassen“ heißt und dass nur eine Kirche, die milieudurchlässig, also wirklich divers ist, politischen Radikalisierungen trotzen kann. Mit anderen Worten: Man weiß, dass der Volkskirche die Zukunft gehört, wie klein diese Volkskirche am Ende auch sein mag. Denn die Volkskirche hat die Kraft, die Unterschiede und Spannungen zwischen Menschen und zwischen politischen Überzeugungen auszuhalten. Vielleicht auch deshalb, weil in ihr die Erinnerung wach ist, dass ein ganz anderer Unterschied den entscheidenden Unterschied macht: der heilsame und rettende Unterschied zwischen Gott und Mensch nämlich. Ohne diesen Unterschied wird der Kampf um die Wirklichkeit und ihre Deutung zum Hauen und Stechen selbsternannter Letztinstanzen und letztlich zu einem Krieg aller gegen alle, bei dem es nur Verlierer geben kann und in dem das kleine gallische Dorf spurlos verschwinden wird wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.
- Download als pdf-Datei