Wolfgang Sander: Was ohne das Christentum fehlt

Was ohne das Christentum fehlt

An prominenter Stelle, auf der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 22.12.2024, fragte Reinhard Bingener: „Was würde fehlen ohne ihn?“ – ohne Gott und Christus? Bingener diagnostiziert in seinem lesenswerten Artikel den Rückgang des Glaubens an Gott und den tiefer werdenden Bruch mit der christlichen Tradition in der Gesellschaft.

Den Anfang dieser Entwicklung sieht er mit Foucault in der frühen Neuzeit. Mit dem Beginn der modernen Wissenschaften ändere sich das Verhältnis zur Welt. Aber diese populäre Sichtweise greift zu kurz. Denn Galilei beispielsweise war gläubiger Katholik, und Kepler schrieb über die Wissenschaft, ihr wichtigstes Ziel sollte es sein, „die rationale Ordnung zu entdecken, die ihr von Gott aufgeprägt worden ist und die er uns in der Mathematik geoffenbart hat.“ Von einem prinzipiellen Gegensatz zum christlichen Glauben ist in der Frühzeit der modernen europäischen Wissenschaft wenig zu erkennen.

Das ändert sich erst ab dem 19. Jahrhundert. Nun kommt es, besonders im Zuge derFranzösischen Revolution, zu einem scharfen Gegensatz zwischen einem radikalisierten Zweig der Aufklärung und den Kirchen. Insbesondere die katholische Kirche nahm als Reaktion auf die Christenverfolgung im revolutionären Frankreich eine Abwehrhaltung gegen die Moderne ein. Denn mit den Jakobinern beginnt eine Linie säkularen Denkens in Europa, die das Christentum auf eine ganz bestimmte Weise beerben will. Shmuel N. Eisenstadt nennt sie die Umwandlung der christlichen Eschatologie in säkulare Zukunftsvisionen. Gemeint ist, dass die endzeitliche Vollendung der Schöpfung durch Gott nun dem menschlichen Handeln als Aufgabe zugewiesen wird. Der Himmel soll auf die Erde geholt werden. Er wird in eine irdische Zukunft verlegt, die auf dem Weg des Fortschritts verwirklicht werden soll. Die marxistische Geschichtsphilosophie ist der deutlichste Ausdruck dieses Denken, aber auch technizistische Utopien gehören in diesen Zusammenhang, bis hin zum Transhumanismus unserer Tage. Selbst die völkischen Träume von einer idealen Volksgemeinschaft imaginieren eine Form von innerweltlicher Erlösung.

Quasi-Religionen

Ganz zu Recht hat deshalb Eric Voegelin schon 1938 den Kommunismus und den Nationalsozialismus als „politische Religionen“ bezeichnet. Sie sind die Extremform eines Phänomens, das in der europäischen Moderne die Rückseite der schwindenden Bedeutung der christlichen Tradition bildet: die Entstehung immer neuer Quasi-Religionen. Es sind kulturelle Phänomene und Bewegungen, die Funktionen von Religion wie Sinnstiftung, Weltverstehen, normative Orientierungen und Antworten auf existenzielle Fragen übernehmen wollen, ohne jedoch einen Transzendenzbezug zu haben. Quasi-Religionen sind nicht notwendigerweise politisch. Das Feld der Esoterik ist voller quasi-religiöser Denkweisen, aber auch in Sport, Popkultur, Film und Konsumwerbung sind quasi-religiöse Phänomene vielfach beschrieben worden. Die verbreitete Rede von Spiritualität und die synkretistischen, meist oberflächlich bleibenden Selbstbedienungen bei verschiedenen Religionen, besonders gerne fernöstlichen, kommen hinzu. In politischer Hinsicht ist die Wokeness-Bewegung mit ihrer Imagination einer gänzlich diskriminierungsfreien Gesellschaft, ihrem Anspruch auf eine neue Lebensweise und ihren Forderungen nach innerer Selbsterforschung und öffentlichen Schuldbekenntnissen das jüngste Beispiel quasi-religiösen Denkens.

Der Relevanzverlust der christlichen Kirchen führt offenkundig nicht zu einer religionslosen Gesellschaft, und dies nicht nur wegen der Angehörigen anderer großer Religionen, die in Deutschland und Europa zugewandert sind. Es scheint, dass religiöse Bedürfnisse sich letztlich andere Wege suchen. Nicht selten spielen dabei Rudimente christlichen Denkens eine Rolle, wenn sie auch vielfach unbegriffen bleiben. Manchmal möchte man meinen, es seien wieder so viele Engel zu sehen wie zu Zeiten des Barock. Und der Jakobsweg ist voller Wanderer. Kein Grund zur Sorge also? Überlebt das Christentum womöglich undercover, in neuen außerkirchlichen Formen von Spiritualität?

Bedrohte Menschenwürde

So einfach ist wohl nicht. Die zentrale Frage ist: Was wird aus den tiefsten normativen Fundamenten der europäischen Kultur, wenn die christliche Glaubensbindung schwindet? Was wird aus vor allem aus der Vorstellung von der gleichen Würde aller Menschen? Christlich begründet sie sich aus der Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Säkulare Begründungen stehen dagegen auf schwachen Füßen. Sie verlieren, jedenfalls auf längere Sicht gesehen, innerhalb der europäischen Gesellschaften an Plausibilität, wenn ihre christliche Verankerung verloren geht. Denn letztlich sind Menschenwürde ebenso wie die aus ihnen begründeten Menschenrechte dann nichts anderes als menschliche Vereinbarungen in Form von Gesetzen und Verträgen, die jederzeit geändert werden können. Ihnen fehlt dann, wie der Philosoph Karl-Heinz Haag in seinem letzten Werk schrieb, die ontologische Grundlage. Es war eben die Unterscheidung zwischen der irdischen Welt und der Welt des Göttlichen, zwischen Diesseits und Jenseits, aus der sich jene Spannung ergab, aus der heraus die Achtung des Menschen auch gegen dessen faktische Missachtung behauptet und begründet werden konnte.

Die Warnzeichen für einen drohenden Verlust der Idee der Menschenwürde in einer postchristlichen Gesellschaft sind längst zu erkennen. Der Philosoph Rüdiger Bittner beispielsweise rät, sich von dieser Idee zu verabschieden, weil die Begründung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen die einzig plausible, inzwischen aber unhaltbar gewordene sei. Die verbreitete Verabschiedung von der Idee einer Sonderstellung des Menschen in der Welt der Lebewesen unterminiert auch die Idee der Menschenwürde. Jan Assmann schlägt als Ausweg vor, die Erklärung der Menschenrechte ähnlich zu behandeln wie die Tora bei den Juden, als Dokument eines neuen Glaubens an den Menschen. Aber heilige Texte entstehen nicht auf UNO-Vollversammlungen.

Was folgt daraus für die Zukunft der europäischen Kultur? Zwar gründet diese nicht allein im Christentum, sie hat auch Wurzeln in der römischen und griechischen Welt der Antike. Europäische Aufklärung und neuzeitliche Wissenschaft beispielweise lassen sich ohne ihre Wurzeln in der griechischen Philosophie nicht verstehen. Nicht umsonst sind immer wieder die Städtenamen Athen, Rom und Jerusalem als Metaphern für die geistigen Wurzeln der europäischen Kultur genannt worden. Aus dieser vielschichtigen Verbindung wird sich die christliche Linie nicht herauslösen lassen, ohne die Eigentümlichkeit der europäischen Kultur zu zerstören. Es mag postchristliche Gesellschaften in dem geographischen Raum zwischen Russland und dem Atlantik geben können. Aber diese Gesellschaften würden dann zugleich die Vorstellung von einer europäischen Art zu leben hinter sich lassen.

Notwendige Erneuerung

Was also bleibt? Die derzeitige Schwäche der Kirchen ist offenkundig. Dass sie sich erneuern und neue Formen kirchlichen Lebens finden müssen, dürfte inzwischen außer Frage stehen. Aber darüber hinaus bedarf es einer kulturellen Erneuerung Europas, die auch die christliche Tradition wiederentdeckt, freilich um sie für heute weiterzudenken. Die christliche Theologie ist gefordert, die Rede von Gott im Diskurs mit den modernen Wissenschaften neu verständlich zu machen. Dafür kann sie in der Philosophie durchaus Partner finden, wenn auch vielleicht noch nicht in deren Mainstream. Das Bildungswesen sollte dem Stellenwert der christlichen Tradition für das Verständnis von europäischer Geschichte, Gegenwart und möglicher Zukunft neue Aufmerksamkeit widmen. Dies betrifft die kirchliche Bildungsarbeit im engeren Sinn, die vor diesem Hintergrund ihre Schwerpunkte überprüfen sollte. Es betrifft aber auch die Schule und hierin zwar zuerst den Religionsunterricht, aber über ihn hinaus auch die anderen geisteswissenschaftlich orientierten Fächer. Theologie, Kirche und Bildung sind Schlüsselbereiche für eine christliche Erneuerung, ohne die auch die Zukunft der europäischen Kultur gefährdet ist.

Wolfgang Sander ist Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen

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