Ein Autohaus ohne Autos – und die evangelische Kirche

Ein Autohaus Ohne Autos – Und Die Evangelische Kirche

Wie ein Nichttheologe die aktuelle Situation der evangelischen Kirche empfindet


René Scheer

Die FAZ titelte im Vorfeld der diesjährigen EKD-Synode „EKD will weiter Flaggen zeigen – aber welche?“ Und weiter: „Auf ihrer diesjährigen Synode debattiert die EKD über Macht, die AfD – und die Regenbogenfahne. Und über eine Verordnung, an die viele Kirchen sich nicht halten.“

Schaut man sich im Nachgang die Ergebnisse der Synode in Dresden an, wächst das Störgefühl, dass die evangelische Kirche in der Tat – je länger, je mehr – den Blick für die wahren Bedürfnisse der Menschen verliert, die von ihrer Kirche eben etwas anderes erwarten als politisch-gesellschaftliche Agitation nach dem Vorbild zivilgesellschaftlicher Organisationen aus dem Nonprofit-Sektor. Wer sich auf diesem Gebiet engagieren möchte, schließt sich dem „Original“ an und geht nicht zur Kirche. Diese offensichtliche Anbiederung an den (vermuteten) Zeitgeist hat letztlich nur eines zur Folge: die Profanierung bzw. – wie Christoph Bergner es kürzlich in seinem Artikel im Deutschen Pfarrerblatt formuliert hat – „Selbstsäkularisierung der Kirche“. Eine höchst bedenkliche Entwicklung, denn Glauben durch Ideologie und Theologie durch Aktivismus zu ersetzen, wird den Prozess der gesellschaftlichen Entkirchlichung nicht aufhalten. Mit der Präferierung von Zeitgeistthemen wird sich die evangelische Kirche nicht aus dem „Abklingbecken der Geschichte“ (Peter Sloterdijk) erheben können.

Die Kirche, besser gesagt ihre Entscheidungsgremien auf Kreis‑, Landes- und Bundesebene, so ist mein Eindruck, handeln wie das Management eines großen Autohandelsunternehmens, das in Hochglanzbroschüren, Anzeigen und landesweiten Showrooms die breite Palette exklusiver Fahrzeuge eines renommierten Herstellers offeriert, diese Produkte auf unterschiedliche Weise bewirbt und durch versiertes Fachpersonal in ihren Werkstätten wartet. Kunden, die daraufhin eine der an jedem Ort bestehenden Niederlassungen aufsuchen, werden allerdings zu ihrem großen Erstaunen keine Autos mehr angeboten, sondern alternative Mobilitätsprodukte wie Fahrräder, Bus- und Bahntickets, Carsharing, Wanderausrüstungen sowie Einladungen zu Anti-Auto-Workshops, weil man eigentlich gar keine Autos mehr verkaufen will, sondern ganz andere Schwerpunkte setzen möchte. Allerdings ist das Verkaufspersonal, ebenso wie die Fachleute in der Werkstatt, mit den neuen Produkten kaum vertraut, weshalb diese auch nicht adäquat vermarktet bzw. gewartet werden können. Da die Kunden – verständlicherweise – mit ganz anderen Vorstellungen und Wünschen in das Autohaus gekommen sind, verlassen sie in der Regel irritiert das Geschäft, ohne irgendetwas zu kaufen; denn für Fahrräder, Bus- und Bahntickets oder weitere Mobilitätsofferten gibt es andere, wesentlich kompetentere Anbieter, die am Markt bereits etabliert sind. Das Interesse der Kunden wiederum an „Autos“ ist keinesfalls gesunken, nur suchen sie nun nach anderen Wegen, ihr Kaufbedürfnis zu befriedigen.

In der Folge dieses Prozesses sinken Umsatz und Gewinne des Autohandelsunternehmens drastisch. Das Management sieht sich deshalb gezwungen, personelle Einschnitte – insbesondere im Verkauf – vorzunehmen, Standorte zu schließen und zu konzentrieren, die Selbstständigkeit der Niederlassungen einzuschränken, Budgetkürzungen durchzuführen und den Einkauf beim Produzenten der Autos stark zu reduzieren. Die verbliebenen Verkäufer mit guten Kundenkontakten verlassen scharenweise das Unternehmen; neue Verkäufer wiederum lassen sich kaum noch gewinnen, weil die Attraktivität der Firma als Arbeitgeber stark gesunken ist und das ursprüngliche Geschäftsfeld, nämlich der Verkauf von Autos, nicht mehr im Mittelpunkt steht. Die Qualität der Werkstätten nimmt ebenfalls ab, weil kaum noch Autos zur Wartung gebracht werden und die guten Mechaniker sich Autohäusern zuwenden, in denen sie ihr Fachwissen auch anbringen können.

Mit diesen Konsequenzen konfrontiert, baut das Management das Finanzcontrolling und die Administration in der Zentrale personell stark aus, um für den Aufbau der neuen Geschäftsfelder und den sukzessiven Abbau der bisherigen Produktangebote ausreichend Liquidität und Manpower zu sichern. Zudem wird eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Pläne für eine allmähliche Konversion der Tätigkeitsfelder sowie eine entsprechende Marketingstrategie entwickeln soll, weil man der Überzeugung ist, dass ein Autohaus schwerpunktmäßig keine Autos mehr verkaufen sollte, sondern sich verstärkt anderen Geschäftsfeldern zuwenden muss, um attraktiv zu bleiben. Wenig überraschend gelingt diese Transformation nicht, weil das Autohandelsunternehmen sein ursprüngliches Kerngeschäft, mit dem es groß und bedeutend geworden ist, vernachlässigt, auf dem Gebiet der neuen Tätigkeitsfelder indessen wenig Erfahrung besitzt und zudem auf einen breiten, gut aufgestellten, harten Wettbewerb stößt. So endet die Geschichte letztlich damit, dass Umsatz und Gewinn weiter einbrechen, die alte Geschäftsgrundlage zunehmend erodiert, während eine neue nicht erfolgreich etabliert werden kann. Ein Lehrstück selbstgefälliger, wirklichkeitsferner Allodoxie, das in letzter Konsequenz zur Insolvenz führt. Denn ein Autohandelsunternehmen, das so tut, als ob es keines wäre, ist zum Scheitern verurteilt.

Hoffen wir, dass die Spitzengremien der ev. Kirche ihren Irrweg erkennen, bevor sie sich dem Vorwurf der Insolvenzverschleppung aussetzen. Die Bibelstelle in 1. Korinther 7,29–31, wo Paulus vom Leben nach der Berufung im Sinne eines „als ob nicht“ ὡς µή (hōs me) spricht, ist keineswegs ein Appell dahingehend, dass sich die Kirche in Zukunft so verhalten solle, als sei sie keine.

Man wünscht sich den Leitungsgremien vielmehr eine Begegnung, wie sie Saulus mit Hananias erleben durfte: „Da ging Hananias hin und trat in das Haus ein; er legte Saulus die Hände auf und sagte: Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Weg hierher erschienen ist; du sollst wieder sehen und mit dem Heiligen Geist erfüllt werden“ (Apg. 9,17). Eine Begegnung dieser Art wäre segensreich, damit die Kirche mit neuem Geist erfüllt zur Klarheit des Sehens, zu lebendiger Spiritualität und zur Entschiedenheit des Handelns zurückfindet.

Meine Zuversicht, dass die Kirchen nicht zu „Gräbern Gottes“ werden, sondern Orte der Verkündigung der Reich-Gottes-Botschaft Christi, der Besinnung und der Meditation bleiben, ist nicht gänzlich dahin. Auch wenn ich kein Vertrauen in die Kirche habe – um es mit Karl Rahner zu sagen –, so habe ich dennoch ein Vertrauen in der Kirche, und zwar zu den Menschen, den Glaubensgeschwistern, in der Kirche. Wer nach dem Erscheinungsbild der Kirche fragt, fragt letzten Endes nach Personen. Nach Personen, die bereit sind, die Botschaft des Evangeliums in die Welt hineinzutragen; nach Personen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, damit die Kirche ihrem Auftrag und ihrer Sendung gerecht wird und das Licht Christi die Menschen in diesen überaus bewegten und besorgniserregenden Zeiten erreicht.

Ich bin davon überzeugt, dass es diese Personen (noch) gibt. Schenken wir ihnen Raum und Gehör!

Logo des Forums Kirche & Theologie mit stilisiertem Alpha-Zeichen und Kreuz
Weitere Beiträge in unserem Forum lesen:

Vom Wert des Glaubens

Wie kann Glaube Orientierung geben, wenn die Gesellschaft auseinanderdriftet? Ein Blick auf Freiheit, Fürbitte und den alten Auftrag, der Stadt Bestes zu suchen. Vom Wert des Glaubens Die Rolle des Christentums in pluraler Gesellschaft von Ulrich H.J. Körtner [1] I...

Das infantile Mißverständnis

Bonhoeffer neu gelesen: Eine theologische Klärung dessen, was „Kindschaft“ wirklich bedeutet – jenseits religiöser Klischees und moderner Infantilität. Das infantile Missverständnis Vom Weimarer Superintendenten erreichte mich die Einladung, eine Andacht anlässlich...

Der Irrweg der Transzendenzabstinenz

Jürgen Habermas warnt vor einer „Verflachung der christlichen Glaubensgehalte“. Ingolf U. Dalferth nimmt diesen Einwand ernst und widerspricht einer „transzendenz­abstinenten“ Religionspraxis, die Glauben und Hoffnung auf bloßen Vollzug reduziert. Sein Essay...

Rechtfertigung heute?

Rechtfertigung heute?Verstehensprobleme reformatorischer Theologie in Zeiten der Gottesvergessenheit Vortrag von O. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner auf der Tagung des Forums Kirche und Theologie am 10.3.2025 in Leipzig 1.   Die neuzeitliche...

Religion und Populismus

Zur Kritik unterkomplexer Populismuskritik in Theologie und Kirche. Der Beitrag „Religion und Populismus – Zur Kritik unterkomplexer Populismuskritik in Theologie und Kirche“ von Ulrich H. J. Körtner wirft einen differenzierten Blick auf das Verhältnis von Kirche,...

Säkularismus

Was bleibt, wenn das Heilige fehlt? Säkularisierungsgewinne werden seit der Aufklärung gerne ins Schaufenster der Gelehrten gelegt. Die Aufklärung verspricht in ihren religionskritischen Varianten mehr Rationalität, mehr Selbststeuerung und Selbstverwirklichung, die...