Gedanken zum Reformationstag
1. Alles umsonst (vergeblich)?
„Es ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben“, so heißt es in dem alten Lied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ von Martin Luther. Was für eine ernüchternde Botschaft! All unser Tun umsonst, vergeblich? Sogar in dem besten Leben? Hatten Sie auch schon mal das Gefühl: alles umsonst, alles vergebliche Liebesmüh, alles für die Katz? Der eine reibt sich auf im Beruf und dann wird bei der nächsten Beförderung doch jemand anderes vorgezogen. Die Schülerin rackert sich ab, paukt und paukt und dann reicht es am Ende doch nicht für die Versetzung oder für den nötigen Abiturdurchschnitt, um den lang ersehnten Studienplatz zu bekommen. Die Eltern geben sich alle Mühe für eine sorgfältige und liebevolle Kindererziehung und doch kommt es mit einem der Kinder zur Entfremdung und schließlich zum Bruch, der einfach nicht heilen will. Da ernährt sich jemand gesund, treibt regelmäßig Sport und geht gewissenhaft zu den Vorsorgeuntersuchungen und dann plötzlich die niederschmetternde Krebsdiagnose.
Was im Privaten gilt, gilt wohl auch in der großen Politik und in Gesellschaft wie Kirche: Da engagieren sich Politikerinnen und Politiker mit ganzem Einsatz für eine gerechtere, friedvollere Welt, kämpfen um die Bewahrung der Schöpfung und werden dann doch bei den nächsten Wahlen abgestraft, die Populisten und Bauernfängerinnen gewinnen. Da arbeitet man jahrzehntelang an einer komplizierten europäischen Friedensordnung und Sicherheitsarchitektur und dann reißt ein machtbesessener Autokrat mit einem Schlag wieder alles nieder. Da engagieren sich viele Menschen für das Klima und die Umwelt und doch scheint alles immer schlimmer zu werden. Das, was durch monatelanges schöpfungsfreundliches Verhalten vieler Menschen an CO₂-Ausstoß eingespart wird, wird in wenigen Stunden durch die Bomben an den Kriegsschauplätzen dieser Welt wieder zunichte gemacht. Da bemühen sich Pfarrerinnen und Pfarrer redlich um gute Gottesdienste und Seelsorge und trotzdem laufen ihnen die Schäfchen in Scharen davon.
Alles umsonst und vergeblich? Manchmal könnte man verzweifeln. Und viele Menschen verzweifeln tatsächlich. Die Zahl der depressiven Erkrankungen steigt. Laut dem statistischen Bundesamt hat sie sich seit der Jahrtausendwende mehr als verdoppelt. Viele verzweifeln aber nicht nur wegen der Verhältnisse, sondern sie zweifeln und verzweifeln auch an sich selbst: Habe ich wirklich den richtigen Beruf gewählt, der mich erfüllt? Habe ich in der Erziehung der Kinder oder in der Partnerschaft nicht so manchen Fehler gemacht? Habe ich überhaupt jemals einen Kompass für mein Leben gefunden? Wird mir nicht eines Tages die Rechnung präsentiert und ich erschrecke angesichts der hohen Schuldenlast, die sich über die Jahre angehäuft hat? Zwar glaubt heute wohl kaum noch jemand an das Jüngste Gericht und die Hölle, sehr real aber ist das, was man den horror vacui nennt, die Angst vor dem großen Nichts, dass da gar nichts mehr kommt nach dem Tod, dass wir schnell vergessen sind, dass unser Leben letztlich wertlos gewesen sein könnte. Selbst Menschen, die sich für unverzichtbar halten, müssen früher oder später einsehen, dass jede und jeder ersetzbar ist. „Wir werden ihr oder ihm ein ehrendes Andenken bewahren!“, so oder ähnlich liest man es häufig in Todesanzeigen oder in Nachrufen. Wie lange währt dieses Andenken wirklich? Wer erinnert sich tatsächlich noch an die verstorbene Kollegin oder den Kollegen, wenn ein paar Jahre ins Land gezogen sind? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass selbst Menschen in ganz herausgehobenen Führungspositionen rasch vergessen sind; mitunter erinnert man sich nicht einmal mehr an ihren Namen. Wer von uns könnte sich schon rühmen, dass er die eigenen Lebensmaxime im Leben auch tatsächlich immer umgesetzt hätte? Zwischen den eigenen Ansprüchen und dem tatsächlichen Tun und Lassen, Denken und Fühlen klafft doch wohl meistens eine mehr oder weniger große und schmerzhafte Kluft.
2. Alles umsonst (gratis)!
Liebe Leserinnen und Leser, ich will Sie nicht länger quälen mit diesen trüben Gedanken zu unserer zerbrechlichen und moralisch oft fragwürdigen menschlichen Existenz. Denn der Römerbrief des Paulus, eine maßgebliche Quelle für Luthers reformatorischen Neuansatz, enthält ja im wahrsten Sinne des Wortes ein Evangelium, zu Deutsch: eine gute Nachricht! „Wir werden ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“, so heißt es da im 3. Kapitel, Vers 24. Gott sagt Ja zu uns, unser Leben ist sinnvoll. Und das ist ein Geschenk, es kostet uns nichts, es ist umsonst. Das ist die zweite Bedeutung des Wörtleins „umsonst“: Es kostet uns nichts, es ist also gratis; und wir leben deswegen gerade nicht vergeblich, wir leben gerade nicht umsonst. Wenn uns nämlich irgendwann einmal die Rechnung präsentiert wird, dann haben wir die Rechnung gewissermaßen ohne den Wirt gemacht, denn der Wirt sagt: „Ich habe euch eingeladen …“ und lacht: „Es war mir ein Vergnügen.“ Dabei hat sich der Wirt selbst das einiges kosten lassen. In Jesus Christus hat er unsere menschliche Not und Schuld auf sich genommen und ist unseren Tod gestorben. Und Gott nimmt uns auch nicht einfach so an, wie wir nun mal so sind, sondern er nimmt uns an, obwohl wir so sind, wie wir sind. Das ist ein erheblicher Unterschied! Und der befreienden Botschaft, dass Gott uns annimmt, obwohl wir so sind, wie wir sind, dass wir uns nicht abzustrampeln, nicht selbst zu verwirklichen brauchen, gilt es zu vertrauen, sonst kommt diese Botschaft nicht bei uns an, sonst hätte Paulus seinen Römerbrief umsonst geschrieben. „Wer’s glaubt, wird selig!“, diese meist abfällig gemeinte Floskel fasst im Grunde kurz und prägnant zusammen, was Paulus meinte und Martin Luther vor gut 500 Jahren von Paulus lernte. Ja, wer’s glaubt, wird selig! Wer darauf vertraut, dass Gott uns umsonst Lebenssinn schenkt, dessen Leben ist sinnvoll und deswegen gerade nicht umsonst.
3. Drei Probleme
Eigentlich ist damit schon alles zum Sinn des Reformationstages gesagt. Aber ich sehe noch drei Probleme, die ich wenigsten kurz ansprechen möchte:
3.1 Die Gefahr der Überheblichkeit
Erstens: Die reformatorische Rechtfertigungslehre, wonach wir allein aus Gottes Gnade leben und im Glauben daran Sinn finden, birgt, wie die Geschichte zeigt, die Gefahr einer antijüdischen Haltung in sich. Vielfach hat man – und teilweise leider sogar bis heute – so argumentiert: Während das Judentum eine reine Gesetzesreligion sei, in der man sich sklavisch an eine Unmenge von Regeln und Zeremonien halten müsse, um vor Gott bestehen zu können, habe das Christentum solche Fesseln abgestreift und die Menschen von jeglichem Gesetzeszwang befreit. Dabei wird meist nicht nur übersehen, dass Paulus – wie Jesus – selbst Jude war, sondern auch, dass er keineswegs das Gesetz aufheben wollte, ganz im Gegenteil. Wörtlich heißt es im Römerbrief, Kapitel 3, Vers 31: „Heben wir das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf.“ Was Paulus lediglich ausschloss, war die Heilsfunktion des Gesetzes, die aber auch im Judentum mindestens nicht unumstritten war. Ganz ähnlich wie die Gefahr einer antijüdischen Haltung gab und gibt es im evangelischen Christentum auch die Gefahr einer gewissen Überheblichkeit unseren katholischen Mitchristinnen und ‑christen gegenüber. Auch hier wäre es viel zu einfach, diesen eine reine Gesetzlichkeit vorzuwerfen, die wir Protestanten längst überwunden hätten. Auch Katholiken glauben an die Gnade Gottes und wir Evangelische laufen umgekehrt immer wieder Gefahr, in neue Gesetzlichkeiten zu verfallen oder aber, was genauso problematisch ist, einem schrankenlosen Libertinismus zu verfallen, nach dem eigentlich alles erlaubt zu sein scheint.
3.2 Das Missverständnis der „billigen Gnade“
Damit bin ich schon beim zweiten Problem angelangt. Dietrich Bonhoeffer warnte vor der Gefahr einer „billigen Gnade“. Was meinte er damit? Wenn wir die Gnade Gottes doch umsonst haben können, dann brauchen wir ja eigentlich auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen. Dann können wir ganz egoistisch und auf Kosten anderer leben und uns wie die sprichwörtliche Axt im Walde benehmen. Dieses Missverständnis haben schon Paulus und Luther angeprangert. Die Gnade Gottes ist zwar für uns umsonst, aber sie ist deswegen keineswegs billig oder gar kostenlos, sie ist im Gegenteil sogar sehr teuer. Gott „ließ es sein Bestes kosten“, so heißt es in einem anderen Luther-Lied („Nun freut euch, lieben Christen g‘mein“). Was nichts kostet, ist auch nichts wert, so sagt man. Aber für seine Gnade hat sich Gott in Jesus Christus kreuzigen lassen. Das sollten wir uns immer wieder vor Augen halten. Und auch, dass wir unser Leben und unseren Lebenssinn Gott zu verdanken haben. Dass wir nicht umsonst geboren werden, leben und sterben, sondern dass wir umsonst aus Gottes teurer – und eben gerade nicht billiger – Gnade leben dürfen und uns dieser Gnade – soweit wir das vermögen – würdig erweisen. Adel verpflichtet, so sagte man früher. Wir alle sind gewissermaßen geadelt durch Gottes Gnade. Paulus und Luther waren sich sicher: Wer aus der Gnade Gottes lebt, der wird sich nicht benehmen wie die Axt im Walde. Wer sich von Gott geliebt weiß, der kann sich liebevoll seinen Mitmenschen zuwenden, weil er oder sie sich nicht mehr um sich selbst kümmern, sich nicht mehr selbst verwirklichen muss. Und wer wirklich geliebt wird, der kann auch mal Fehler machen, irren, sich versündigen, ohne gleich Liebesentzug befürchten zu müssen.
3.3 Kommt die reformatorische Botschaft nicht mehr an?
Das dritte Problem ist vermutlich derzeit das gravierendste. Die freimachende reformatorische Botschaft, dass Gott uns eingeladen hat, dass er für uns die Kosten übernommen hat, dass unser Leben trotz all unserer menschlichen Schwächen sinnvoll ist – diese Botschaft scheint kaum noch bei den Menschen anzukommen. Wir Christenmenschen dringen nicht mehr durch! Die Erosion gerade auch unserer evangelischen Kirche ist gewaltig, sie hat in den vergangenen Jahrzehnten sogar noch deutlich mehr Mitglieder verloren als die katholische Kirche. Es ist inzwischen kein Abbröckeln mehr, sondern ein Erdrutsch, ja der ganze Berg ist ins Rutschen geraten. Woran liegt das? Im 19. Jahrhundert schon meinte der Philosoph Friedrich Nietzsche: „Erlöster müssten die Christen aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“ Verstecken wir Christenmenschen zu sehr unseren Glauben? Trauen wir uns nicht mehr, offen darüber zu sprechen und dazu zu stehen? Engagieren wir uns vielleicht zu sehr auf Nebenschauplätzen, die durchaus auch wichtig sein mögen, aber von nicht-religiösen Menschen und Organisationen genauso gut betrieben werden könnten? Ist unser Glaubensleben zu verdruckst, zu sauertöpfisch, zu privat, zu wenig fröhlich? Sprechen Sie mit Ihren Nachbarn, Arbeitskolleginnen, Ihren Bekannten und Freunden schon mal darüber, dass Sie an Gott glauben und in den Gottesdienst gehen? Das sind alles Fragen, die keineswegs nur an unsere kirchlichen Amtsträgerinnen und ‑träger zu stellen sind, sondern an alle Christen. Nach Martin Luther gibt es gar kein besonderes Amtspriestertum, vielmehr sind alle Getauften „zum Priester, Bischof und Papst geweiht“ – also, falls Sie es noch nicht gewusst haben sollten, Sie sind, sofern getauft, ab heute alle Päpstinnen und Päpste! Aber damit haben Sie auch eine Verantwortung: Erzählen Sie fröhlich von der freimachenden Kraft unseres Glaubens an die Gnade Gottes! Vielleicht können wir schon mal damit anfangen, uns wechselseitig von unseren Glaubensgeschichten zu erzählen. Womöglich ist unser eigener Glaube schwach und angefochten und voller Zweifel. Aber, wer nie gezweifelt hat, hat auch nie wirklich geglaubt. Der Zweifel gehört zum Glauben so sicher dazu wie das Amen in der Kirche. Auch darüber sollten wir offen sprechen können. Wir sind gerechtfertigt durch den „Glauben an Jesus Christus“ heißt es im Römerbrief, Kapitel 3, Vers 22. Das kann man jedoch auch anders übersetzen: Wir sind gerechtfertigt durch den „Glauben Jesu Christi“. Wenn unser Glauben schwach ist, dürfen wir uns den starken Glauben Jesu Christi gewissermaßen ausleihen.

