Forum Kirche und Theologie:
Predigten
Prof. Dr. Alexander Dietz
Predigt zu Lk 14, 25-35
30.04.2023, Andreasgemeinde Niederhöchstadt (Taufgottesdienst)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.
Das Wort der Heiligen Schrift für die heutige Predigt steht im Lukasevangelium, Kapitel 14, Verse 25 bis 35.
Von der Nachfolge
"Es ging aber eine große Menge mit ihm; und er wandte sich um und sprach zu ihnen: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein. Denn wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und setzt sich nicht zuvor hin und überschlägt die Kosten, ob er genug habe, um es zu Ende zu führen, damit nicht, wenn er den Grund gelegt hat und kann’s nicht zu Ende bringen, alle, die es sehen, anfangen, über ihn zu spotten, und sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und kann’s nicht zu Ende bringen? Oder welcher König zieht aus, um mit einem andern König Krieg zu führen, und setzt sich nicht zuvor hin und hält Rat, ob er mit zehntausend dem begegnen kann, der über ihn kommt mit zwanzigtausend? Wenn nicht, so schickt er eine Gesandtschaft, solange jener noch fern ist, und bittet um Frieden. So auch jeder unter euch: Wer sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein. Das Salz ist etwas Gutes. Wenn aber das Salz nicht mehr salzt, womit soll man würzen? Es ist weder für den Acker noch für den Mist nütze; sondern man wirft es weg. Wer Ohren hat zu hören, der höre!"
Liebe Gemeinde,
wer mit diesem Text kein Problem hat, der hat nicht richtig zugehört. Der hat sich einlullen lassen von der alten Sprache und den vielen Worten und hat innerlich abgeschaltet. Wer wirklich richtig zugehört hat, der muss doch denken: Was sind das denn für Aussagen? Das geht ja wohl gar nicht. Wenn solche Dinge in Gottesdiensten gesagt werden, muss man sich nicht wundern, wenn so viele aus der Kirche austreten. Ich fasse zusammen: Jesus sagt hier: Überlegt euch lieber noch einmal richtig lange und gut, ob Ihr Christen sein wollt. Denn dazu gehört, dass ihr eure Familien und euer eigenes Leben hasst, dass ihr bereit seid zu leiden bis zur Kreuzigung und dass ihr auf allen euren Besitz verzichtet. Einladend ist das ganz sicher nicht. Eher ein Fall für den Psychologen. Hatte der Philosoph Nietzsche doch Recht damit, dass die Christen ein Haufen griesgrämiger Masochisten sind? Und müssen wir unser Jesus-Bild grundsätzlich überdenken und uns eingestehen: Jesus war in Wahrheit ein – Hassprediger?
Gut, die Sache mit dem „Hassen“ lässt sich tatsächlich als Übersetzungs-Missverständnis aufklären. Wenn man in der Sprache, die Jesus gesprochen hat, sagen wollte: „Ich liebe Gott mehr als meinen Vater“, dann hat man gesagt: „Ich liebe Gott und ich hasse meinen Vater“. Die angemessene Übersetzung für den Satz „Wer Vater oder Mutter oder sein eigenes Leben nicht hasst“ wäre also eigentlich: „Wer Jesus nicht mehr liebt als Vater oder Mutter oder sein eigenes Leben“. Matthäus übersetzte diesen Satz in seinem Evangelium auch genau so. Immerhin: Jesus war also kein Hassprediger, sondern „nur“ ein Prioritäten-Prediger. Aber wirklich einladend wird der Predigttext dadurch immer noch nicht. Wer kann denn wirklich von sich sagen, dass er Gott mehr liebt als seine Familie und sein eigenes Leben? Dass er bereit ist, für seinen Glauben zu leiden bis zum Kreuz? Dass er bereit ist, auf all seinen Besitz zu verzichten und ab morgen auf der Straße zu leben? Da bleiben nicht viele übrig. Sogar die besten Freunde Jesu sind am Abend seiner Gefangennahme an diesem Anspruch gescheitert. Ist Christsein, ist die Nachfolge Jesu Christi also etwas für nur ganz wenige Helden? Leute wie Bonhoeffer oder Luther? Vielleicht können wir beim Nachdenken über diesen Text tatsächlich etwas von Luther lernen.
Luthers Vater hat es im Schiefertagebau zu etwas gebracht und seinem Sohn die Devise mitgegeben: Man muss eine gute Ausbildung haben, eine reiche Frau heiraten und sich darum bemühen, in der Gesellschaft angesehen zu sein. Weil der Vater mitbekommen hat, dass man als Jurist viel Geld verdienen kann, verordnet er seinem Sohn ein Jurastudium. Gleichzeitig sieht er sich schon einmal nach einer reichen Braut um. Gehorsam fängt Martin an, in Erfurt Jura zu studieren. Aber er hat auch persönlich Menschen kennengelernt, die andere Prioritäten in ihrem Leben setzten. Wohlhabende Menschen, die besonders gute Christen sein wollten, unseren Predigttext ernst genommen haben und auf all ihren Besitz verzichtet hatten, um für den Rest ihres Lebens als Bettelmönche durch die Straßen zu ziehen und von Almosen zu leben. Das hat Martin offensichtlich beeindruckt und innerlich beschäftigt. Und als der 21jährige Student einmal von einem schweren Gewitter überrascht wird und direkt neben ihm ein Blitz einschlägt, gelobt er spontan der Heiligen Anna, ein Mönch zu werden, wenn sie ihm dabei hilft, aus der Situation heil herauszukommen. Alle Versuche seines Vaters, ihn davon abzuhalten, seine Karriere wegzuwerfen, scheitern. Er ist bereit, den Zorn seines Vaters zu ertragen, um sein Gelübde zu erfüllen. Ganz im Sinne unseres Predigttextes entscheidet er sich gegen seine Familie, verzichtet auf allen Besitz und ist bereit, ein hartes Leben im Kloster der Augustinereremiten zu führen. [vgl. Wilfried Härle, Vertrauenssache, Leipzig 2022, 224ff.]
Luther hofft, dass er nun den richtigen Ort und den richtigen Weg gefunden hat, um Gottes Anspruch gerecht zu werden. Die wahre Nachfolge. Gut geplant ist halb gewonnen? Aber seine Hoffnung wird enttäuscht. Er findet keinen inneren Frieden. Im Gegenteil. Obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, als würde er alles richtig machen in der radikalen Nachfolge im Sinne unseres Predigttextes. Aber Luther erkennt beim Studium der gesamten Bibel, dass es in der Nachfolge, dass es beim Christsein in allererster Linie nicht darum geht, wie viel wir schuften, leiden und verzichten. Sondern in der Nachfolge, im Christsein geht es in allererster Linie um den Glauben, also um ein echtes Vertrauen auf Gott. Aber genau dieses Gefühl will sich bei dem jungen Mönch einfach nicht einstellen, soviel er auch freiwillig schuftet, leidet, betet und verzichtet. Wie soll man auch von Herzen einem Gott vertrauen, der im Himmel sitzt, unerfüllbare Forderungen an den Menschen stellt und ihn am Ende noch für sein Scheitern verurteilt? Luther verzweifelt an diesem Gott und beginnt ihn zu hassen. Er ist wie der Mensch im Gleichnis im Predigttext, der angefangen hat, einen Turm zu bauen und es nicht zu Ende bringen kann. Aber was kann er dafür? Er will ja nichts lieber als alle Bedingungen der Nachfolge zu erfüllen. Aber er hat nicht die Macht, die Gefühle in seinem tiefsten Inneren zu verändern. Ob Vertrauen auf Gott in einem Menschen entsteht, hängt nämlich nicht primär von einer Entscheidung des Menschen ab. Seine Planung geht nicht auf. Luther ist kurz vor dem völligen Zusammenbruch.
Da hat er plötzlich beim Nachdenken über einen Bibelvers ein Aha-Erlebnis. Plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Seine Vorstellung von Gott war all die Jahre falsch gewesen. Gott sitzt gar nicht im Himmel, stellt unerfüllbare Forderungen an den Menschen und verurteilt ihn am Ende noch für sein Scheitern. Auf solche Gedanken konnte man zwar kommen, wenn man Texte wie unseren Predigttext isoliert betrachtet. Aber der Gott, um den es in unserem Predigttext geht, ist derselbe, von dem ein paar Verse vorher gesagt wird, dass er ausnahmslos alle Menschen zum himmlischen Festmahl einlädt, und von dem ein paar Verse später gesagt wird, dass er alles stehen und liegen lässt, um das Schaf zu suchen, dass sich in der Wüste verirrt hat. Luther erkennt nun das wahre Wesen Gottes beim Lesen im Römerbrief. Gott zählt nicht von oben die guten und schlechten Taten des Menschen und gibt ihm dann, was er verdient hat. Sondern Gott liebt den Menschen und sagt Ja zu ihm, obwohl er es nicht verdient hat. Darum kann der Mensch Gott von Herzen vertrauen. Und um dieses Vertrauen geht es in der Nachfolge, im Christsein. Jetzt kann auch Luther diesem Gott vertrauen. Er fühlt sich wie neu geboren.
Und Luther liest nun die ganze Bibel mit neuen Augen. Durch die Brille des barmherzigen Gottes, dem man vertrauen kann. Bibelstellen, die ihm früher Angst gemacht haben, geben ihm jetzt Trost und Freude. Zum Beispiel unser Predigttext: Der Ruf in die radikale Nachfolge, die Aufforderung zur realistischen Selbsteinschätzung, die Warnung vor falschen Prioritäten. Ohne den barmherzigen Gott, dem man vertrauen kann, könnten solche Worte einen Menschen dazu bringen, zu verzweifeln und sich resigniert von Jesus abzuwenden. Diesem Anspruch kann man nicht genügen – außer man ist Jesus Christus. Anderen Menschen gegenüber könnte man vielleicht noch versuchen, die Fassade aufrecht zu erhalten, aber Gottes vernichtendes Urteil steht fest. Aber mit dem barmherzigen Gott, dem man vertrauen kann, bekommen dieselben Worte einen anderen Klang. Der Ruf in die radikale Nachfolge ist die Einladung zum radikalen Vertrauen auf Gottes unbedingte Liebe. Das kann uns von dem befreien, was uns drückt, belastet, Sorge und Gewissensqual bereitet. Von gesetzlich-frommen Nachfolge-Appellen ebenso wie von Moralismus und Ablasspraktiken – und sei es in modernen Formen. Die realistische Selbsteinschätzung, dass wir mit leeren Händen vor Gott stehen, hilft uns zu erkennen, dass allein er es ist, der uns hält und trägt. Die Warnung vor falschen Prioritäten erinnert uns daran, dass Menschen, die auf Gott vertrauen, keine existenzielle Angst mehr vor einem Verlust, einem Streit mit einem Menschen oder einem leeren Bankkonto haben müssen. Weil der tiefste Sinn und das Fundament ihres Lebens nicht mehr von anderen Menschen und materiellen Dingen abhängt. Das kann in Lebenskrisen Kraft und Hoffnung geben. Und Christen haben nicht weniger Lebenskrisen als andere Menschen – ganz im Gegenteil. Das wussten nicht nur die Christen, die zur Zeit der Entstehung des Predigttextes unter Verfolgungen litten. Davon kann auch Luther in seinem weiteren Leben ein Lied singen. Er wird von der Kirche und vom Kaiser verfolgt, muss miterleben, wie Freunde von ihm als Ketzer verbrannt werden, verliert zwei Töchter im Kindesalter und leidet selbst an verschiedenen chronischen Krankheiten. Sein Vertrauen auf Gott lässt ihn die Erfahrung machen: Wenn unsere eigene Welt zusammenbricht – sei es bei Scheidungen, einem Todesfall oder Arbeitslosigkeit – dann erhält Gott sie für uns aufrecht.
Der Christ muss nicht nur mit Lebenskrisen, sondern auch mit Glaubenskrisen rechnen. Auch das weiß niemand besser als Luther. Es gibt Situationen im Leben, in denen das Vertrauen auf Gott angefochten ist, fragwürdig ist, zu entschwinden droht. In solchen Situationen nimmt Luther ein Stück Kreide und schreibt auf seinen Tisch: „Ich bin getauft!“ Ausrufezeichen. Das gibt ihm Trost. Das gibt ihm Kraft. Denn es erinnert ihn daran, dass Gott ihn liebt und Ja zu ihm sagt. Und zwar schon bevor er Vertrauen zu Gott hatte. Darum ist und bleibt dieses Ja Gottes auch gültig, wenn sein Vertrauen gerade brüchig ist. Die Taufe setzt das Vertrauen beziehungsweise den Glauben nicht voraus, sondern sie möchte einen Beitrag dazu leisten, dass das Vertrauen entsteht und wächst. Darum ist eine Taufe auch etwas grundsätzlich anderes beziehungsweise viel mehr als ein öffentliches Glaubensbekenntnis des Täuflings. Die Taufe ist ein Sakrament. Ein sichtbares und spürbares Zeichen für die Liebe und das Ja Gottes zu einem Menschen, die Gott nicht von irgendeiner Leistung des Menschen, auch keiner Nachfolge-Leistung, und auch nicht von seinem Vertrauen beziehungsweise Glauben abhängig macht. An dieses Zeichen, an unsere Taufe können und sollen wir uns wie Luther erinnern, wenn es uns schwerfällt, Gott zu vertrauen, weil uns alles sinnlos vorkommt, weil andere uns das Gefühl geben, nichts wert zu sein, weil wir nicht wie Jesus oder Luther oder Bonhoeffer sind. Wenn wir vergessen haben, was der verlässliche Grund unseres Vertrauens ist, nämlich die Barmherzigkeit Gottes, der zu uns sagt: Du bist mein geliebtes Kind. Um dieses Vertrauen, das Gott uns schenkt, geht es in der Nachfolge, geht es im Christsein. Daraus folgen auch neue Prioritäten. Aber nicht als überfordernde religiöse Regeln und Ansprüche. Sondern als Befreiung von überfordernden Regeln und Ansprüchen, als Befreiung von Gewissensnöten und Selbstüberforderung, als Befreiung von existenziellen Ängsten und ungesunden inneren Abhängigkeiten von Menschen und Dingen. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.