Forum Kirche und Theologie:
Predigten

Prof. Dr. Ulrich Körtner

Predigt zu Röm 3,21–28 

Für den 31. Oktober 2024 (Johanneskirche, Evangelische Pfarrgemeinde A.B. Wien-Liesing)


Predigttext


Predigt
Paulus ist wahrlich keine leichte Lektüre, sondern schwere Kost. Davon wusste schon der Verfasser des zweiten Petrusbriefes ein Lied zu singen. Paulus habe schwer verständliche Dinge geschrieben, „welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen“ (2. Petrus 3,16). Erst recht tun sich heutige Leser mit Paulus schwer. Der Streit über seine Rechtfertigungslehre, an dem die Einheit der abendländischen Christenheit zerbrach, gilt seit der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die vor 25 Jahren am 31. Oktober 1999 in Augsburg stattfand, als beigelegt. Man könnte freilich auch sagen: Das Streitthema Rechtfertigung lockt heute niemandem mehr hinter dem Ofen hervor. Die heutigen Zeitgenossen haben scheinbar andere Sorgen.


Dabei handelt es sich beim Römerbrief des Apostels Paulus und insbesondere bei dem Abschnitt, den ich gerade vorgelesen habe, gewissermaßen um die Magna Charta der Reformation. Über der Lektüre gerade des ausgewählten Abschnittes gelangte Luther zu seinem reformatorischen Durchbruch, nachdem ihn sein ganzes bisheriges Leben die Frage gequält hatte: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Von dieser Frage umgetrieben war Luther – gegen den Willen seines Vaters – Mönch geworden und in den Augustinerorden eingetreten. Sein Gewissen und seine Angst vor dem Zorn Gottes und seinem Gericht quälten ihn unablässig. Sein Beichtvater Johann von Staupitz, dem er erstmals 1506 in Erfurt begegnete und dessen Nachfolger Luther sechs Jahre später als Professor für Bibelwissenschaft in Wittenberg Luther wurde, konnte ihn von seiner Seelenpein nicht wirklich befreien, obwohl doch auch Staupitz schon immer wieder in ihren Beichtgesprächen von der Gnade Gottes sprach und der Ansicht war, dass es Luther mit seinen Selbstbezichtigungen, ein gänzlich verlorener und verdammungswürdiger Sünder zu sein, und seinen strengen Bußübungen zu weit trieb.
 

Luther las intensiv in der Bibel und ganz besonders den Römerbrief. Als er eines Tages zum wiederholten Mal die Stelle bei Paulus las, die wir eben gehört haben, fiel es Luther wie Schuppen von den Augen. Der gerechte Gott, von dem Paulus spricht, ist nicht der Gott, der uns verdammt, sondern der uns gnädig ist und um Christi willen aus Sünde und Tod rettet. Luther meinte bis dahin, den gerechten Gott hassen zu müssen, weil man es ihm als verlorener Sünder doch ohnehin nie recht machen könne. Nun begriff er plötzlich: Gottes Gerechtigkeit ist nicht die Eigenschaft eines Richters Gnadenlos, sondern sein schöpferisches Handeln, wodurch er uns von Sündern zu Gerechten macht. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, besteht darin, dass wir von ihm zu neuen Menschen gemacht werden, die seiner Vorstellung vom rechten, vom richtigen, wahren Menschen entsprechen. Gott spricht uns nicht etwa nur gerecht, indem er, wie man so sagt, Fünfe gerade sein lässt, sondern er macht uns gerecht.


Im Deutschen hat das Wort „richten“ einen doppelten sind. Einerseits meint das Verb die Tätigkeit des Richters, der über Menschen ein Urteil fällt und sie richtet. Andererseits kann „richten“ aber auch „zurechtbringen“, „ausrichten“ bedeuten. Wenn wir von jemandem sagen, er wird es schon richten, dann meinen wir ja nicht, dass er ein Urteil fällt, sondern dass er etwas zurechtbringt, was wir vielleicht selbst nicht schaffen. Wir sprechen auch davon, den Blick oder die Augen auf etwas oder jemanden zu richten. Wir richten uns auf etwas aus, auf ein Ziel, das wir vor Augen haben. Wir kennen das Gefühl, unserem ganzen Leben eine neue, andere Richtung geben zu müssen. Vielleicht merken wir aber auch, dass wir es gar nicht schaffen, unser Leben zu ändern. Am Ende scheitern wir mit allen guten Vorsätzen. Wir schaffen es auch nicht aus eigener Kraft, uns und unser Leben so auf Gott auszurichten, wie es seinem Willen entspricht. Das war die Erfahrung, die Luther gemacht hatte. Der Mensch, der unfähig ist, Gott über alle Dinge zu lieben, zu fürchten und zu vertrauen, sich gleichsam in sich gekrümmt. Wie jemand, der sich im Bett oder auf dem Sofa eingerollt auf die Seite legt mit geschlossenen Augen oder allenfalls auf die Wand starrend.


Gerechtmachung durch Gott bedeutet, so Luther, aus dieser Haltung der Selbstfixierung befreit zu werden. Das krumme Holz, das wir nach einem treffenden Wort des Philosophen Immanuel Kant sind, wird gerade gezogen und lernt den aufrechten Gang. Es ist, wie wenn man ein krummes Holzstück unter Wasserdampf geradezieht. Und so kommt ein neuer Mensch zu Vorschein: der, der wir in Gottes Augen sind und sein sollen.


Solchermaßen gerichtet, nämlich aufgerichtet und frei von der Fixierung auf uns selbst, wird uns das Leben neu geschenkt, ein Leben in Glaube, Liebe und Hoffnung. Wir werden befreit, von uns selbst abzusehen und uns Gott, den Menschen und der Welt um uns herum zuzuwenden. Aus dem Glauben leben heißt nicht, sich selbst völlig zu verneinen und in Selbstlosigkeit zu verzehren. Wohl aber bedeutet es Selbstvergessenheit, wie wir sie zum Beispiel bei Kindern im Spiel beobachten können. Frei werden von der Sorge, sich selbst behaupten und darstellen zu müssen, frei von dem Zwang, etwas aus sich selbst machen zu müssen, frei von dem Zwang, sich dem Urteil der anderen zu unterwerfen. Denn wir sind nicht die, die wir zu sein meinen, aber auch nicht die, die wir in den Augen der anderen zu sein scheinen, sondern wir sind das, was wir in den Augen Gottes sind, der uns mit den Augen Christi anschaut, voller Liebe und Barmherzigkeit. Darum nun: Ende des Ruhms und des Selbstruhms, wie toll wir doch sind.


So sagt es Paulus, dabei den Propheten Habakuk zitierend: Der Gerechte wird aus Glauben leben. Und Paulus spitzt zu: Der Gerechte wir aus dem Glauben an Jesus Christus leben. In ihm war Gott selbst, um die Welt mit sich zu versöhnen. Jesus ist das Wort, das Gott auch an uns richtet. Er ist Gottes Wort in Person. Er ist Gottes letztes Wort. Und das lautet: Ja. Gott sagt ja zu uns, und nicht nein, wie wir es erwarten dürften, wenn wir uns selbst vor Gott prüfen.


Rückblickend erinnert sich Luther an seine grundstürzende Römerbrieflektüre ein Jahr vor seinem Tod im Vorwort zu seinen gesammelten Werken. Er schreibt: „Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von Neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht.“ Und, so können wir hinzufügen: da zeigte mir sofort Gott ein anderes Gesicht, nämlich das Gesicht des gnädigen, liebenden Vaters, das sich im Antlitz Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen widerspiegelt.


Vordergründig betrachtet scheint die reformatorische Rechtfertigungslehre ihre Relevanz in der Moderne eingebüßt zu haben, weil sich das Gottesbild seit der Aufklärung radikal gewandelt hat und weil die Vorstellung von einem Jüngsten Gericht, die Frage nach dem gnädigen Gott und die Angst vor Sündenstrafen verblasst sind. Die moderne Infragestellung der Rechtfertigungslehre ist eng mit dem Theodizeeproblem verbunden, also der Frage, ob Gott gerecht ist, wenn er all das Böse und die Übel in der Welt zulässt. Gott steht unter Anklage. Eine Verteidigungsstrategie besteht darin, ihn von aller Schuld freizusprechen um den Preis, das seine Nichtexistenz behauptet wird. Ein Gott, der nicht existiert, kann auch nicht schuld an den Übeln der Welt sein.


Die Theodizee mutiert nun aber zur Anthropodizee: Wie kann sich der Mensch angesichts aller Übel in der Welt rechtfertigen, von Kriegen über Pandemien bis zur Klimakrise? Nun ist der Mensch selbst Richter und Angeklagter zugleich. Weil Gott fehlt, tritt an die Stelle der Rechtfertigung des Menschen eine Unkultur des Rechthabens (Martin Walser). So steht die vermeintliche Verstaubtheit der reformatorischen Rechtfertigungslehre in einem eigentümlichen Widerspruch zum heute allgegenwärtigen Zwang zur öffentlichen Rechtfertigung und Selbstrechtfertigung. Die Folge der Anthropodizee, welche die Verantwortung für das Wohl und Wehe der Welt allein dem Menschen aufbürdet, ist eine Tribunalisierung, um nicht zu sagen Übertribunalisierung, der modernen Lebenswirklichkeit (Odo Marquard). Sie reicht von der These des Philosophen Hegel und des Dichters Friedrich Schiller, die Weltgeschichte sei das Weltgericht, bis in unsere Alltagswelt und Medienkultur. In diesem modernen Weltgericht ist jeder Ankläger, Richter und Angeklagter zugleich. Die Gerichtsshows und öffentlichen Lebensbeichten im Privatfernsehen sind die Farce auf das moderne gnadenlose Weltgericht. Das sollte bedenken, wer den christlichen Gedanken an das Jüngste Gericht als erledigten Mythos abtun möchte. Mit dem religiösen Begriff der Sünde ist unserer modernen Welt auch die Dimension der Gnade abhandengekommen. Der Mensch als Letztverantwortlicher und Angeklagter kann auf keine Instanz mehr hoffen, die ihn freispricht.


So gesehen hat sich die Frage nach dem gnädigen Gott, die Luther und seine Zeit bewegte, keineswegs erledigt. Die reformatorische Rechtfertigungsbotschaft richtet sich an den Menschen, der modern gesprochen, um seine Anerkennung kämpft. Existentielle und soziale Konflikte erklären sich nicht allein aus dem Kampf um Selbsterhaltung, sondern auch aus dem Kampf um Anerkennung. Gesellschaftliche Konflikte lassen sich daher nicht auf ökonomisch reduzieren, sondern sind immer auch moralische und – wie wir in jüngster Zeit wieder sehen – religiöse. Im – auch massenmedial ausgetragenen – Kampf um Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit werden die Menschen von der Angst vor der Bedeutungslosigkeit getrieben.


Schon in der Bibel lässt sich der Kampf um Anerkennung auf Schritt und Tritt beobachten. Das Phänomen der Sünde und das Streben nach Anerkennung gehören bereits im Alten Testament zusammen. Als Kain sich von Gott gegenüber Abel zurückgesetzt fühlt, erschlägt er seinen Bruder (1. Mose 4,1–16). Die Schlange verheißt Adam und Eva im Paradies, sie würden sein wie Gott, wenn sie sich über das göttliche Verbot hinwegsetzen und vom Baum der Erkenntnis essen würden. Man kann die Sünde geradezu als das Streben des Menschen definieren, wie Gott sein zu wollen, also nicht etwa nur Anerkennung durch Gott zu erfahren, sondern sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen.


Auch die Schuldfrage und damit die Frage nach Vergebung und Annahme sind nicht wirklich verschwunden. Das von moralischen Schuldgefühlen geängstigte Gewissen zu Zeiten Luthers mutiert vielmehr zum narzisstisch gekränkten Gewissen (Klaus Winkler), das – psychoanalytisch gesprochen – weniger vom Versagen gegenüber dem Über-Ich als gegenüber dem eigenen Ich-Ideal bedrückt wird.


Die Gnadenlosigkeit einer übertribunalisierten Lebenswelt lässt die Frage nach einer Kultur des Erbarmens und des Verzeihens laut werden. Nach Ansicht der jüdischen Philosophin Hannah Arendt war es Jesus von Nazareth, der die Bedeutung des Verzeihens für den Bereich menschlicher Angelegenheiten entdeckt hat. Ist es nicht das, was unsere Welt so nötig braucht: eine Kultur des Verzeihens und des Erbarmens. Die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade und allein durch den Glauben ist die entscheidende Ressource einer solchen Kultur. Es ist Gott selbst, der die Feindschaft des Menschen überwindet und ihn um Christi willen trotz seiner Sünde bedingungslos annimmt und somit anerkennt.


Wir werden gerechtfertigt ohne Werke des Gesetzes, heißt es bei Paulus. Die bedingungslose Anerkennung durch Gott hebt unsere eigene Verantwortung keineswegs auf, sondern begründet sie auf neue Weise. Freiheit allein aus dem Glauben, Liebe im Sinne des Doppelgebotes, Gott und unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst, und Bereitschaft, in der Welt Verantwortung zu tragen, hängen nach evangelischem Verständnis unauflöslich zusammen.


In einem Fenster hinter der Kanzel in der evangelischen Johanneskirche in Wien steht das Wort aus dem Jakobusbrief: „Seid Täter des Wortes, nicht Hörer allein, womit ihr euch selbst betrügt.“ Man kann dieses Wort missverstehen, als bereite es einer Moralisierung des Evangeliums den Boden, wie wir sie heute vielfach erleben. So, als käme es eben immer nur auf unser Tun an. Die Ethik der Rechtfertigungslehre ist hingegen nicht so sehr eine solche des Tuns als vielmehr des Lassens und des Sein-Lassens. Plakativ lautet ihr Motto in Umkehrung des Satzes aus Jakobus 1,22: „Seid aber Hörer des Wortes und nicht Täter allein, wodurch ihr euch selbst betrügt!“ Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. Gottes Wort, das wir hören sollen, weist uns ein in eine Ethik des Lassens, die Gott Gott und den Mitmenschen ihn selbst sein lässt, statt über ihn und die Welt eigenmächtig verfügen zu wollen. Es kommt nämlich keineswegs darauf an, mit Karl Marx gesprochen, die Welt oder unsere Mitmenschen nach unseren Vorstellungen zu verändern oder zu verbessern, sondern darauf, sie zu verschonen.