Forum Kirche und Theologie:
Predigten
Mirjam Raupp
Predigt zu Offb 21, 1-5a
10.03.2024, Lukaskirche Frankfurt-Sachsenhausen (Ordinationsgottesdienst)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Ein ganz besonderer Tag. Ein Tag, auf den viele schon lange gewartet haben. Ein bedeutender Tag im Berufsleben – manche sagen sogar: der bedeutendste. Viele haben das große Fest mit vorbereitet. Haben geplant und geprobt, aufgebaut und dekoriert. Musikstücke wurden geübt, Reden vorbereitet, die Garderobe sorgfältig ausgewählt.
Und dann ist er endlich da, der große Tag. Man sieht bekannte Gesichter, trifft alte Freunde und neue Wegbegleiter. Festliche Stimmung liegt in der Luft. Im Raum voller Menschen blicken alle gespannt nach vorne und halten vielleicht kurz die Luft an in der kleinen Pause nach den Worten, die für manche die Welt bedeuten:
And the Oscar goes to…
Liebe Gemeinde, als bekennender Fan der Traumfabrik habe ich mich heute nicht nur auf einen ereignisreichen Tag gefreut, sondern sehe auch einer langen Nacht entgegen. Denn heute werden die Oscars verliehen. Und ich gehöre zu den speziellen, manche würde sagen: etwas verrückten Menschen, die sich mitten in der Nacht vor den Fernseher setzen um das live zu verfolgen.
Was mich daran so fasziniert? Hollywood produziert Träume, so sagt man. Ich glaube, dass wir Menschen Träume, Bilder, Visionen brauchen, die uns motivieren und antreiben. Die uns dazu ermuntern, nicht stehen zu bleiben, sondern den Schritt zu wagen mitten ins Ungewisse, in neue Räume hinein. Träume und Visionen, die uns den Mut geben, ins Risiko zu gehen. Nicht nur Hollywood-Filme, sondern besonders auch unsere biblischen Texte sind voll von solchen Bildern und Träumen. Und eine dieser Visionen möchte ich heute mit Ihnen und euch teilen.
Sie steht im Buch der Offenbarung im 21. Kapitel:
Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde.
Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen,
und das Meer ist nicht mehr da.
Und ich sah die heilige Stadt: das neue Jerusalem.
Sie kam von Gott aus dem Himmel herab – für die Hochzeit bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat.
Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen:
»Sieh her: Gottes Wohnung ist bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein. Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein.
Er wird jede Träne abwischen von ihren Augen. Es wird keinen Tod und keine Trauer mehr geben, kein Klagegeschrei und keinen Schmerz. Denn was früher war, ist vergangen.«
Der auf dem Thron saß, sagte: »Ich mache alles neu.«
Liebe Gemeinde,
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen – so soll Altbundeskanzler Helmut Schmidt einst geraten haben. Visionen, so der Gedanke, seien eher hinderlich für die praktische und oft notwendigerweise pragmatische Arbeit in der Politik. Da stören Utopien eher als dass sie weiterhelfen. Wer bunte Bilder entwirft, riskiert nur allzu schnell, dass die sich später als Luftschlösser entpuppen und Menschen enttäuscht werden, weil sich der große Traum nicht erfüllt hat.
Auch Hollywood-Filmen haftet manchmal dieser Makel an. Disney hat mir unrealistische Vorstellungen von Liebe vermittelt – so lautet ein inzwischen tausendfach reproduziertes und geteiltes Zitat im Internet. Scheinwelten entstehen da, so der Vorwurf, die doch am Ende nur wenig mit unserer Realität zu tun haben. Im besten Fall helfen sie bei der kurzen Realitätsflucht, wenn ich mir zuhause auf dem Sofa einen kurzen Moment heile Welt gönnen kann. Im schlimmsten Fall messe ich mein Leben an unrealistisch hohen Glücksvorstellungen und empfinde meine Realität als gescheitert, wenn es mal nicht so läuft wie im Film.
Unser Glaube ist doch voll von diesen Bildern und Visionen! Voll von Träumen und Utopien einer anderen, einer neuen Welt. Sind wir Christinnen und Christen damit also naive, realitätsvergessene Spinner, die eigentlich besser mal ihre geistige Gesundheit überprüfen lassen müssten? Oder werden wir zu Zynikerinnen und Pessimisten, weil wir erleben, dass die Realität einfach nicht zusammenpassen will mit der Utopie, die wir vor Augen haben?
Nein – beides kann und will ich so nicht sehen. Weil ich oft genug selbst erlebt habe, wie ansteckend die Visionen einer lebendigen, einer ermutigenden Gemeinschaft im Glauben sein können. Weil mich die farbenfrohen Bilder, die ich mit anderen von Kirche gemalt habe, begeistern und tragen. Und das können durchaus ganz unterschiedliche Bilder sein – vom Segen to go für Menschen draußen auf der Straße, mitten auf der Zeil oder auf dem Römer über Ideen zu neuen Strukturen und Zusammenarbeit im Nachbarschaftsraum bis hin zur ganz grundsätzlichen Frage danach, ob Kirchensteuer und Institutionsbindung überhaupt noch das Modell einer zukünftigen Kirche sein können. Mit ganz unterschiedlichen Menschen habe ich in den letzten Jahren über Bilder von Kirche nachgedacht: Mit meinem Kurs im Vikariat haben wir so manchen Abend lang die Zukunft der Kirche diskutiert.
Mit euch, dem Kirchenvorstand hier in der Maria-Magdalena-Gemeinde, haben wir bei der Klausur im Januar über die Vision für unsere Gemeinde nachgedacht.
Mit Freunden und Verwandten habe ich überlegt, was für eine Rolle Kirche in unserer Gesellschaft noch spielt und welche sie vielleicht eigentlich spielen sollte. Immer konnte ich dabei besonders von den Perspektiven profitieren, die weniger den innerkirchlichen Standpunkt vertreten, sondern eher einen Blick vom Rand oder auch ganz von außen haben.
Die vielen Ideen und Bilder, die dabei entstanden sind, haben eins gemeinsam:
Immer ist die Vision von Kirche eine Vision von Gemeinschaft. „Sieh her: Gottes Wohnung ist bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein.“ So beschreibt es das Buch der Offenbarung. Unser Glaube ist einer, der von Gemeinschaft lebt. Von Gemeinschaft untereinander und von der Gemeinschaft mit Gott. Und davon, dass Menschen ihre Ideen und Bilder von einer neuen Erde und einem neuen Jerusalem teilen. Dass wir alle miteinander ins Gespräch kommen darüber, was wir uns eigentlich unter Kirche und Gemeinde vorstellen.
Martin Luther King’s Rede vor dem Lincoln Memorial beim „Marsch auf Washington“ wurde vor allem wegen eines Satzes bekannt. I have a dream – Ich habe einen Traum. Aber dieses „Ich“, das wird in der Rede deutlich, sieht diesen Traum immer im Plural, als „wir“.
„We cannot walk alone. And as we walk, we must make the pledge that we shall always march ahead. We cannot turn back.“, so sagt er. Wir können den Weg nicht alleine gehen. Und auf unserem Weg müssen wir versprechen, immer weiter zu marschieren. Wir können nicht umkehren. Wir.
Visionen, Träume und Bilder können nur dann Realität werden, wenn viele gemeinsam an ihnen bauen. Und dazu braucht es zweierlei. Zum einen den Bauplan, ein Drehbuch, das Szene für Szene beschreibt – aus den großen Visionen müssen ganz konkrete Bilder werden. Wie soll unsere Kirche, unsere Gemeinde hier vor Ort aussehen? Wie wollen wir Gemeinschaft leben in dieser Welt, in dieser Stadt, in dieser Zeit? Wen wollen wir einladen, diese Gemeinschaft zu teilen? Und was stärkt uns selbst, damit das „wir“ kein leerer Begriff bleibt, sondern wirklich erfahrbar, erlebbar wird?
Und es braucht gemeinsames Anpacken, damit dieses Drehbuch umgesetzt werden kann. Die Oscar-Verleihung dauert auch deshalb so lange, weil es eben nicht darum geht, nur die besten Schauspielerinnen zu ehren. Damit ein Film entsteht, braucht es viel mehr als nur eine Handvoll talentierter Darsteller. Es braucht Musik, Maske, Schnitt, Tontechnik, Drehbücher und manches mehr. Filme sind riesige Gemeinschaftsprojekte – an denen Menschen mit ganz unterschiedlichen Gaben mitwirken.
Genau das gehört zu meinem Traum von Kirche, von christlicher Gemeinde und Gemeinschaft in unserer Welt. Das neue Jerusalem – schon hier. Gottes Wohnung bei uns Menschen. Wir alle sind gemeinsam Bauleute dieser neuen Erde. Ich glaube, dass Gott uns alle auf ganz unterschiedliche Weise begabt hat. Und dass er uns dorthin setzt, wo wir diese Gaben zum Leuchten bringen können – mal offensichtlich und strahlend, mal eher im Verborgenen. Ja, es mag dauern, bis wir diesen Platz gefunden haben. Und doch gilt das Versprechen: in Gottes neuem Jerusalem kann sich jede und jeder auf eigene Weise einbringen. Hier kann eine Gemeinschaft wachsen, die schon jetzt etwas sichtbar macht von dem, was uns verheißen ist. Wo wir davon erzählen, wie Gott in unserem Leben wirkt. Wo wir uns riskieren, weil wir immer wieder aufs Neue ineinander vertrauen, lieben, verletzlich sind.
Diese Gemeinschaft ist eine, die auf Liebe, Versöhnung und Vertrauen hofft und von Gottes Liebe zu den Menschen nicht nur spricht, sondern sie erlebbar macht. Indem sie hindurchscheint durch unser eigenes Handeln.
Wenn wir aufeinander achten.
Wenn wir uns umeinander kümmern und um andere, denen sich oft niemand mehr zuwendet.
Wenn wir auf Alleingänge verzichten und uns gegenseitig etwas zutrauen.
Gottes Liebe wird spürbar, wenn wir uns angreifbar machen, weil wir von unseren Träumen von einer neuen Erde erzählen.
Wenn wir darum wissen, dass unsere Hoffnungen und Träume von Liebe, Versöhnung und Vertrauen immer wieder an Grenzen stoßen in einer Welt voller Krisen und Gewalt.
Ja, diese Hoffnung und Liebe zeigt sich auch, wenn wir offen damit ringen und hadern, dass es manchmal Situationen gibt, in denen wir kein eindeutiges Richtig und Falsch, keine gute Position oder Lösung finden können.
Der auf dem Thron saß, sagte: »Ich mache alles neu.« - Die Vision im Buch der Offenbarung erinnert daran, dass wir zwar Bauleute, nicht aber Architekten dieses neuen Jerusalems sind. Gott selbst ist es, der uns die Bilder und Visionen von Gemeinschaft und Gemeinde ins Herz schreibt. An uns ist es dann, diese Bilder umzusetzen. Wie gut, denke ich manchmal, dass ich nicht allein auf meine menschliche Kreativität und meine manchmal doch ganz schön eingeschränkte Sicht angewiesen bin. Wie gut, dass da einer den vollständigen Bauplan, das ganze Drehbuch schon kennt.
Denn wir haben es eben noch mit einem ziemlich irdischen Jerusalem zu tun, an dem wir da bauen. Mit manchmal quietschenden Türen, unausgepackten Kisten, staubigen Ecken und der ein oder anderen unverputzten Wand. Wir kennen eben nur einzelne Szenen und Bauabschnitte. Aber Unvollkommenheit sollte nicht den Anspruch außer Kraft setzen, es trotzdem zu versuchen!
Denn am Ende ist es mit der Vision vom himmlischen Jerusalem wie mit einem Hollywood-Film – sie ist ein Bild. Eine Utopie. Aber nicht im Sinne einer unrealistisch hohen Messlatte. Sondern als Traum, der uns motiviert, gemeinsam weiterzugehen. Den Schritt ins Offene zu wagen. Und daran mitzuwirken, dass ein bisschen von diesem Traum schon jetzt Realität wird.
Wer solche Visionen hat, muss also nicht unbedingt zum nächsten Arzt laufen. Sondern wäre besser aufgehoben hier bei uns, in einer Gemeinschaft, die gemeinsam an Träumen und Visionen baut.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen