O. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner:
Rechtfertigung heute? Verstehensprobleme reformatorischer Theologie in Zeiten der Gottesvergessenheit
O. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner:
Rechtfertigung heute? Verstehensprobleme reformatorischer Theologie in Zeiten der Gottesvergessenheit
Die nachstehend gebotene Version des Vortrags enthält keine Fußnoten und Zitatnachweise.
Eine Datei mit Fußnoten und Zitatnachweisen finden Sie
hier.
1. Die neuzeitliche Infragestellung der Rechtfertigungslehre
Als Nietzsche im Jahre 1873 seine Kritik an David Friedrich Strauß veröffentlichte, gab er ihr den Titel „Unzeitgemäße Betrachtungen“. Es scheint, als sei dies heutzutage eine passende Überschrift auch für die paulinische und die reformatorische Rechtfertigungslehre. Deren Unzeitgemäßheit gilt nicht nur nachchristlichen Zeitgenossen, sondern vielerorts selbst innerhalb von Theologie und Kirche als ausgemacht.
Einige Beispiele seien in Erinnerung gerufen. So erklärte die vierte Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes 1963 in Helsinki in ihrer oft zitierten Botschaft: „Der Mensch von heute fragt nicht mehr: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Er fragt radikaler, elementarer, er fragt nach Gott schlechthin: Wo bist Du, Gott? Er leidet nicht mehr unter dem Zorn Gottes, sondern unter dem Eindruck von Gottes Abwesenheit, er leidet nicht mehr unter seiner Sünde, sondern unter der Sinnlosigkeit seines Daseins, er fragt nicht mehr nach dem gnädigen Gott, sondern ob Gott wirklich ist.“ Die Zeitgemäßheit der Rechtfertigungslehre war freilich nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg fraglich geworden. Schon 1928 beklagte Paul Tillich einen Traditionsabbruch in Sachen Rechtfertigungslehre.
Dagegen wende man nicht ein, die Rechtfertigungslehre erfreue sich doch seit mehr als zwei Jahrzehnten im ökumenischen Dialog höchster Aufmerksamkeit und intensivster theologischer Bemühungen. Dass derart schillernde Texte wie die Gemeinsame Erklärung (GER) und die „Gemeinsame offizielle Feststellung“ (GOF) für eine tragfähige Basis künftiger ökumenischer Arbeit und einer weiteren Annäherung der Kirchen gehalten werden können, zeugt meines Erachtens nicht von echten theologischen Fortschritten, sondern ist eher ein Indiz dafür, „daß Lehren wie die zur Rechtfertigung, Eucharistie und Amt schon deswegen ihre kirchentrennenden Wirkung verloren haben, weil sie – allen feierlichen Beteuerungen zum Trotz – doch faktisch die Bedeutung verloren haben, die ihnen vom Wesen des Christlichen her zukäme“.
Für die moderne Infragestellung der Lehre von der Rechtfertigung und ihres theologischen Stellenwertes gibt es eine Reihe von Gründen. Die Verdrängung der Frage nach dem uns Menschen im Gericht gnädigen Gott durch diejenige nach der Existenz Gottes wurde bereits angesprochen. Sie ist seit der Aufklärung eng verwoben mit dem Theodizeeproblem. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes hat sich radikal umgekehrt. Statt dass der Mensch sich noch länger vor Gott rechtfertigen muss, ist es nun Gott, der sich vor dem Tribunal des nach Gerechtigkeit in der Welt verlangenden Menschen zu rechtfertigen hat. An die Stelle der Rechtfertigung des Menschen durch Gott tritt die Rechtfertigung Gottes durch den Menschen. So lautet die derjenigen nach der Existenz Gottes innewohnende Frage: Wie kriegt Gott einen gnädigen Menschen, der sich seiner erbarmt? Anders formuliert lautet ein wiederkehrender Einwand gegen die Rechtfertigungslehre, sie frage nicht radikal genug nach Gott.
Auch die Ethisierung der Theologie seit der Aufklärung, d.h. die Transformation dogmatischer in ethische Gehalte ist sowohl eine Folge wie auch eine Ursache der heutigen Verständnisschwierigkeiten gegenüber der klassischen Rechtfertigungslehre. Die Ethisierung der Theologie im Neuprotestantismus ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die Fragwürdigkeit der Eschatologie in der Moderne. Hier schließt sich der Kreis: Mit dem Verblassen des in der Reformationszeit durch die spätmittelalterliche Buß- und Beichtpraxis allgegenwärtigen Gerichtsgedankens hat die Frage nach dem gnädigen Gott ebenso wie diejenige nach dem ewigen Heil zunehmend ihre Bedeutung eingebüßt. An die Stelle der Frage nach dem Heil als unverfügbarem Geschenk Gottes ist diejenige nach dem machbaren Heil getreten. Im Zuge des Glaubens an die Herstellbarkeit des Heils aber ist mit der überkommenen Heilserwartung auch die Rede von Gott problematisch geworden.
Im Zeichen des Nihilismus gehört es „zu den weitestverbreiteten Selbstverständlichkeiten unserer Zeit, daß es mit dem Heil nichts ist, daß Ende und Heil nicht auf einen Nenner zu bringen sind“. Dies ist wohl das eigentliche Dilemma der Rechtfertigungslehre einschließlich der ihr zugehörigen Eschatologie im Zeichen des Nihilismus; ein Dilemma, das durch die gegenwärtige Überlebenskrise der Menschheit nochmals verschärft wird.
2. Einspruch! Martin Walsers Essay über Rechtfertigung
Es sind, um nochmals mit Nietzsche zu sprechen, unzeitgemäße Betrachtungen, die Martin Walser in seinem Essay "Über Rechtfertigung, eine Versuchung zur religiösen Lage der Gegenwart" anstellt. Der kurze Text klingt wie ein Fanfarenstoß, ganz wie die ersten Takte von Richard Strauß’ sinfonischer Nachdichtung von Nietzsches "Also sprach Zarathustra", aus dem Walser reichlich zitiert.
Walsers Essay ist ein rasantes Buch, inspiriert von jener Verwegenheit, ohne die nach Überzeugung des jungen Karl Barth eine Theologie nicht mehr zu begründen ist. Den Grundstock des Textes bildet Walsers gleichnamige Rede, die er zum 9. November 2011 an der Harvard University gehalten hat. Gegen den theologischen Common Sense erinnert hier ausgerechnet ein Nichttheologe an Barth und die Dialektische Theologie, an jenen theologischen Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg, der die neuprotestantische Synthese von Christentum und moderner Kultur radikal in Frage stellte. Hier wagt es ein Intellektueller, nicht etwa nur über Barths Theologie neu nachzudenken, sondern mit ihm – und Nietzsche – zu denken.
Von Barth aus gesehen, sind die zeitgeistige Spiritualität und jener neuerdings um sich greifende Atheismus im Grunde aus einem Holze geschnitzt. Letzterem schreibt Walser ins Stammbuch: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung.“ Weiter: „In der Welt der Atheisten hat doch die Leere keinen Platz. Leere gibt es nur dort, wo Gott fehlt. Und wo er dann durch keinen -ismus ersetzt wird. Eine Welt ohne Leere ist eine zu arme Welt“. Und selbst bekennt Walser, dass Gott „fehlt. Mir.“ Gemessen an diesem Fehl Gottes ist alles Gerede von neuer Spiritualität ein Oberflächenphänomen.
Und Walser macht zugleich klar, was mit Gott abhanden gekommen ist: die Frage nach Rechtfertigung, welche die Geschichte des Christentums und des Abendlandes bis in das 20. Jahrhundert hinein umgetrieben hat. Doch Walser präpariert – wie übrigens schon der Züricher Theologe Walter Mostert vor beinahe 50 Jahren – scharfsinnig heraus, dass die Frage nach der Existenz Gottes keineswegs radikaler als jene nach dem gnädigen Gott ist. Eine Gesellschaft, der die Rechtfertigungsproblematik in ihrer radikalen religiösen Dimension, wie sie allen voran bei Paulus, dann bei Augustin, Luther und Calvin durchbuchstabiert wird, abhanden gekommen ist, verfällt dem Irrtum, als genüge es zur Rechtfertigung der eigenen Person, Recht zu haben. Das Rechthaben aber gerät zur Rechthaberei. „Recht zu haben“, so Walser, „ist der akzeptierte Ersatz für Rechtfertigung. Eine Art Bewusstseinsimperialismus auch. Oft genug verbunden mit Macht und Machtgefühl. Zeitgeistopportunität. Was ist denn political correctness anderes als eine Domestizierung des Gewissens, eine passe partout-Rechtfertigung?“ Eben in solcher Selbst-Rechtfertigung aber besteht jene Versuchung, von der Walser im Untertitel seines Essays spricht und gegen die er anschreibt.
Die Fraglosigkeit, in der von „gelebter Religion“ und vom Transzendenzbezug des Menschen gesprochen werden kann, betäubt jedes Gefühl für die Unmöglichkeit der Möglichkeit, von Gott zu reden. Wenn überhaupt, so wird das Existenzrecht der Theologie nicht durch den deutschen Wissenschaftsrat oder vergleichbare Institutionen gerechtfertigt, sondern allein durch Gott, auf dessen Gnade und Vergebung die Theologie angewiesen bleibt.
3. Gottesfrage und Gottesvergessenheit
Die schiefe Alternative zwischen der Frage nach der Existenz Gottes und derjenigen nach dem gnädigen Gott unterstellt, dass die Frage nach Gott überhaupt immer schon oder immer noch gestellt wird. Diese Grundannahme aller theologischen Apologetik von den Anfängen der Kirche bis in die Gegenwart scheint mir zweifelhaft zu sein.
Das aus dem Griechischen stammende Wort „Theologie“ ist vorchristlichen Ursprungs. Wörtlich bedeutet es „Gottesrede“, Rede oder Erzählung von Gott. Erst zögerlich hat das Christentum diesen Terminus in seinen Sprachgebrauch übernommen und später als Gesamtbezeichnung für die gedankliche Rechenschaft und Selbstauslegung des christlichen Glaubens gewählt. Hermeneutisch gewendet lässt sich die Rede von Gott als Antwort auf die Frage nach ihm verstehen. In diesem Sinne wird gern erklärt, Gegenstand der Theologie sei die Gottesfrage.
Die Rede von Gott ist freilich ebenso wenig unabdingbar wie die Frage nach ihm. Wohl mag es sein, dass der Mensch nicht umhin kann, nach Sinn zu fragen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist aber nicht einfach mit der Gottesfrage identisch. Und nicht alle Antworten auf die Sinnfrage lassen sich als religiös bezeichnen. Religion ist eine Möglichkeit neben anderen, aber nicht die einzige, Sinnfragen und Erfahrungen von Sinnwidrigkeiten zu bearbeiten.
Heutige Theologie kann nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass der biblische Gott zumindest noch im Modus einer offenen und offengehaltenen Frage präsent ist, wie beispielsweise die apologetische Theologie Paul Tillichs oder Rudolf Bultmanns existentiale Interpretation des Neuen Testaments unterstellt haben. Der hermeneutische Zirkel von Frage und Antwort wird dadurch gestört, um nicht zu sagen zerbrochen, dass die Gottesfrage in der Moderne nachchristliche Antworten gefunden hat, durch welche sogar die ursprüngliche Frage verdeckt wird. Aus der Überzeugung, bessere Antworten auf die falsch gestellten Fragen des Christentums gefunden zu haben, speist sich das Selbstbewusstsein der Neuzeit. Nicht nur die christliche Antwort auf die Gottesfrage, sondern sogar diese selbst scheint in Vergessenheit zu geraten.
Der Berliner Systematiker Wolf Krötke hat diesen Befund als Gottesvergessenheit bezeichnet. Günter Thomas ist diesem Begriff in einer umfassenden Würdigung Krötkes nachgegangen. Anders als Friedrich Schleiermacher versteht Krötke unter Gottesvergessenheit nicht einen Mangel, dessen sich der gottvergessene Mensch noch zumindest ahnungsvoll bewusst ist, sondern radikaler als eine Fehlanzeige ohne jedes Verlust- oder Mangelgefühl. Das Vergessen hat vergessen, was es vergessen hat.
Wo noch eine Erinnerung an die biblische und christliche Rede von Gott vorhanden ist, kann sich die Erfahrung des Schweigens einstellen. Bei aller Beredtheit, welche in der Kirche auf Gott die Sprache kommt, gibt es doch die Erfahrung, dass die Sprache schweigt statt zu sprechen. Wie sich auch in der Kirche Phänomene der Gottvergessenheit zeigen, so auch das Phänomen der schweigenden Sprache, deren Schweigen durch routinisiertes Sprechen noch vermehrt wird.
Fraglich ist nun, wie solches Schweigen theologisch zu deuten ist. Ist es mit einem Schweigen Gottes gleichzusetzen? Hüllt sich Gott in Schweigen, je lauter und fragloser die Rede ist? Oder verstummt Gott, wenn von ihm nicht mehr gesprochen wird? Wolf Krötke sagt es tatsächlich so: „Wenn die Worte für Gott verstummen, verstummt […] auch Gott selbst“. Gegen diese Schlussfolgerung erhebt Günter Thomas berechtigen Einspruch. Nun könnte man argumentieren, das Schweigen Gottes sei die äußerste Konsequenz von Inkarnation und Kreuzestod Christi. Mit dem Gekreuzigten wird Gott, der in Christus war, zum Verstummen gebracht. Thomas verweist nun aber auf die Auferweckung des Gekreuzigten, auf der die Gewissheit gründet, dass Gott auch dann spricht, wenn die Menschen von ihm schweigen.
Vom Schweigen Gottes ist im 20. Jahrhundert vor allem im Zusammenhang mit Auschwitz als äußerster Zuspitzung der Theodizeefrage gesprochen worden. In Verbindung mit dem Holocaust bleibt die Rede vom Schweigen Gottes freilich in mehrfacher Hinsicht mehrdeutig. Sie kann einerseits so verstanden werden, als sei Gott definitiv zum Schweigen gebracht worden, andererseits aus religiöser Perspektive aber auch so, dass Gott selbst sich in Schweigen hüllt, was wiederum ein höchst zweideutiges Faktum wäre. Es kann einerseits als Gericht, andererseits aber als abgründige Verborgenheit Gottes gedeutet werden. Sodann aber ist zu fragen, wer hier vom Schweigen Gottes spricht. Sind es die Opfer - oder die Täter? Und wie stellt sich die Situation der Nachgeborenen - sei es der Opfer, sei es der Täter - im Blick auf Auschwitz und die mit dem Holocaust verbundene Erfahrung des Verstummens der Sprache und der des Schweigens Gottes dar? Sofern vom Schweigen Gottes aus der Perspektive der Täter oder einer vermeintlichen Zuschauerperspektive gesprochen wird, verbindet sich mit ihm eine ethisch unerträgliche Entlastungsstrategie, welche die Frage nach der menschlichen Verantwortung für das Grauen und seine Folgen überspielt.
Darin besteht auch die Fragwürdigkeit der Spätphilosophie Heideggers, welche den „Fehl Gottes“ auf ein Seinsgeschick zurückführt. Mit Recht warnte Hans Jonas vor einer unbedachten Übernahme Heideggerscher Theorieelemente in die Theologie, unter anderem mit dem Einwand, dass der biblische Glaube von der Gewalt des Schicksals erlöse und der biblische Gott „Fragen an den Menschen als Täter von Taten, nicht den Sprecher von Worten“ richte. Nicht Seinsvergessenheit oder ein vergeßliches Denken, sondern ein verstockter Wille sei nach biblischem Zeugnis immer wieder die Ursache von Gewalt und Unrecht.
Auch würde die Möglichkeit heutiger Glaubens- und Gotteserfahrung bestritten, träfe die Behauptung Heideggers zu, erst aus der Wahrheit des Seins lasse sich das Wesen des Heiligen, erst aus diesem das Wesen von Gottheit und erst im Lichte dieses Wesens der in der christlichen Tradition mit dem Wort „Gott“ Genannte neu denken. Sprachlosigkeit und die Erfahrung des Schweigens Gottes erfasst auch die Kirche in der nihilistischen Moderne. Davon hat Dietrich Bonhoeffer erschütternd Zeugnis abgelegt. Doch kann die Möglichkeit, dass Gott sein Schweigen bricht, nicht abhängig von der Entwicklung metaphysischen Denkens sein, wenn denn der Gott, den die Bibel bezeugt, tatsächlich gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit ist.
Es gibt ein Schweigen Gottes, das Resultat menschlicher Schuld ist. Gott schweigt, weil er von den Menschen zu Schweigen gebracht wird. Gerade wenn Jesus von Nazareth im Neuen Testament als Gottes Wort in Person bekannt wird, muss in diesem Sinne auch von einem Schweigen Gottes die Rede sein. Nicht weil er abwesend wäre, sondern im Gegenteil, weil er ganz gegenwärtig ist, verstummt Gott. Seine Macht ist die Macht der Liebe, die in Jesus von Nazareth menschliche Gestalt angenommen hat. Es ist dies eine ohnmächtige Macht, nicht unwiderstehlich, sondern widerstehlich, verletzbar und zerbrechlich.
Wenn wir diesem Gedanken zu folgen versuchen, dann geht uns auf, dass Gottes Schweigen wie das Schweigen Jesu höchst beredt ist. Es ist und bleibt erfüllt von all den befreienden und umstürzenden Worten, die Jesus zuvor gesprochen hat, von all den Taten, die er im Namen Gottes begangen hat. Dieses Schweigen bleibt erfüllt vom Evangelium, das nun freilich allen zur Anklage wird, nicht nur denen, die Jesus nach dem Leben getrachtet haben, sondern auch seinen Jüngern, die ihn verraten und im Stich gelassen haben. In der Stunde seines Todes sind sie alle Täter, nicht Opfer, diejenigen, die ihm als seine Jünger gefolgt sind ebenso wie seine Gegner.
Jesu Schicksal ist freilich mit seinem Verstummen und Gottes Schweigen nicht endgültig besiegelt. Sondern es wird uns berichtet von seiner Auferstehung, und das heißt von der Auferstehung des göttlichen Wortes. Der Tod macht stumm. Doch mitten im Tod bricht Gottes schöpferisches Wort neu hervor. Es ruft den neu ins Leben, der dem Tod preisgegeben war, und verwandelt diejenigen, die von diesem Wort ergriffen werden, so dass sie von Liebe, von Vertrauen und Hoffnung erfüllt werden.
Was aber bedeutet das alles für die sogenannte Gottesfrage? Die Frage nach Gott kann heute nur gestellt werden, weil bereits vor uns Menschen von Gott geredet haben. Die neutestamentlichen Texte aber tun dies so, dass sie zugleich von Jesus Christus sprechen. Wer verstehen will, welchen Sinn es hat, im christlichen Sinne von Gott zu reden, muss auch die Eigentümlichkeit der Sprachformen und Textsorten beachten, in denen dies geschieht. Die Rede von Gott und die Rede von Jesus als dem Christus bedingen einander wechselseitig. Auf diese Weise gewinnen die Rede von Gott und die Frage nach ihm ihr unverwechselbares christliches Profil.
4. Die Rechtfertigung des Gottlosen und des Gottesvergessenen
Aus der Perspektive des christlichen Glaubens gewinnt die sogenannte Gottesfrage eine völlig andere Gestalt, weil das menschliche Subjekt der Frage nach Gott zum Objekt der Frage Gottes nach dem Menschen wird. Von Gott reden, so Bultmann, heißt offenbar auf bestimmte Weise von sich selbst reden. Das aber ist nur möglich, sofern Gott selbst von sich redet und nach dem Menschen fragt. Gottes Suche und Frage nach dem sündigen Menschen ist die eigentliche Gottesfrage und des Menschen Erlösung die Antwort auf diese Frage. Es ist also der Mensch, der sich solchermaßen von Gott selbst in Frage gestellt sieht. Indem wir erkennen, wie wir von Gott erkannt sind (1Kor 13,12) findet die Gottesfrage ihre überraschende Antwort. Unversehens sieht sich das nach Gott fragende Subjekt selbst in Frage gestellt. Aber nicht, dass nun die abstrakte Frage nach Gott durch die nicht minder abstrakte Frage nach dem Menschen ersetzt würde. Gottes Frage lautet nicht: „Was ist der Mensch?“, sondern: „Adam, wo bist du?“ (Gen 3,9).
Das war auch die Pointe der reformatorischen Erkenntnis Luthers. Seine ursprüngliche Frage nach dem gnädigen Gott war ohnehin radikaler als die moderne Frage nach der Existenz Gottes. Doch die eigentliche Radikalität seiner reformatorischen Erkenntnis bestand darin, dass auch noch die leidenschaftliche Frage nach dem gnädigen Gott falsch gestellt ist. Sie ist nämlich immer noch eine Form der menschlichen Selbstbehauptung und sündigen Selbstbezogenheit, die am Kreuz Christi scheitert und gerichtet wird. Gerade weil Luthers Theologie nach seiner reformatorischen Wende eben nicht durch die Frage nach dem gnädigen Gott charakterisiert ist, lautet die ihr gemäße Aufgabe nicht, eine der heutigen Zeit angemessene Form der Gottesfrage zu suchen, „sondern die Gottesfrage so durchzuexperimentieren, daß wir die Frage nach Gott als die Behinderung des Erscheinens Gottes als Gottes, und das heißt: als des gnädigen, erfahren“.
Unter neuzeitlichen Bedingungen hängt die Möglichkeit, von Gott zu reden, also offensichtlich nicht von einer wie auch immer gearteten Frage nach Gott ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung. Ludwig Wittgensteins grundsätzliche philosophische Feststellung trifft auch auf den biblisch bezeugten Gott zu: „Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.“ Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst durch sie in der angemessenen Weise provoziert. Andernfalls lässt sich nicht einmal die Frage nach Gott angemessen stellen.
Menschliche Rede von Gott, die seine Offenbarung bezeugen möchte, kann freilich misslingen. Aus dem Misslingen des Gotteswortes entsteht eigentlich erst die Frage nach Gott; so der evangelische Theologe Ernst Fuchs. Es ist solches Misslingen, dass Theologie und Kirche beunruhigen muss. Denn das erschüttert beide bis ins Mark. Verglichen mit dieser fundamentalen „Gotteskrise“ (Johann Baptist Metz) bleibt die zeitgenössische Debatte um die vermeintliche Wiederkehr der Religion ein Oberflächenphänomen.
Paulus spricht von der Rechtfertigung des Gottlosen durch den Glauben an Christus (Röm 4,5). Was aber ist mit Gottlosigkeit gemeint und wie verhält sie sich zu der im vorigen Abschnitt analysierten Gottesvergessenheit? „Der Gottlose“ in der Lutherbibel oder auch in der katholischen Einheitsübersetzung“ ist die Wiedergabe des griechischen asebés, das in der Vulgata mit impius übersetzt wird. Asebēs gibt in der Septuaginta meist das hebräische rāschā wieder, das wir mit „Frevler“ übersetzten können. Asébeia bedeutet im paganen Griechisch das unangemessene Verhalten den Göttern gegenüber. Ihr Gegensatz ist die eusébeia, ein Wort, das im Deutschen gern mit „Frömmigkeit“ übersetzt wird. Rāschā aber in der Septuaginta auch hamartolós übersetzt, allerdings nur halb so oft. Im Neuen Testament überwiegt der Wortstamm hamart-. asebēs und asébeia kommen hingegen nur selten vor. Gottlosigkeit meint im Alten Testament den Verstoß gegen den Willen Gottes, der sich wesentlich auf das Leben und Zusammenleben der Menschen richtet. Deshalb können asebēs und hamartolós „gleichwertig nebeneinander stehen“. Es liegt somit ein „tathaftes Verständnis“ von asébeia vor. Im ontologischen Sinne kann weder in der Bibel noch systematisch-theologisch von Gottlosigkeit gesprochen werden. Wendet sich nämlich Gott als Schöpfer von seinen Geschöpfen ab, müssen sie vergehen und werden zu nichts, wie Ps 104,29 vor Augen stellt: „Verbirgst du [Gott] dein Angesicht, erschrecken sie [sc. deine Geschöpfe], nimmst du ihren Atem weg, kommen sie um und werden wieder zu Staub.“
Paulus verbindet nun in Röm 1,18 Gottlosigkeit (asébeia) und Ungerechtigkeit (adikía). Die Rechtfertigung des Gottlosen oder des Frevlers hat ihren Grund gemäß Röm 5,6 darin, dass Christus für uns Gottlose (hypèr asebōn) gestorben, als wir noch schwach (V. 6) und Feinde (Gottes) waren (V. 10). Für den Gedanken der Rechtfertigung (allein) durch den Glauben verweist Paulus in Röm 4 auf das Beispiel Abrahams. Aufregend ist daran, dass Paulus den Erzvater – ganz unjüdisch – zum Beispiel des glaubenden Gottlosen erklärt: „Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.“ (Röm 4,5)
Die Gerechtmachung oder Gerechtsprechung des Gottlosen gilt auch dem Gottesvergessenen. Gottesvergessenheit ist eben kein Mangel und keine Schwäche des Glaubens, sondern eine Gestalt des Unglaubens und der Sünde. Auch wenn sie subjektiv ohne Mangelbewusstsein ausgestattet ist, ist sie doch aus der Sicht des Glaubens und des biblisch bezeugten Evangeliums eine Erscheinungsweise der menschlichen Verlorenheit, aus der der Mensch nicht sich selbst befreien kann, sondern allen von Gott gerettet werden kann.
5. Rechtfertigung und Anerkennung des Gottlosen
Die Rechtfertigungsbotschaft richtet sich an den Menschen, der modern gesprochen, in einer übertribunalisierten Lebenswelt um seine Anerkennung kämpft. Existentielle und soziale Konflikte erklären sich nicht allein aus dem Kampf um Selbsterhaltung, sondern auch aus dem Kampf um Anerkennung. Gesellschaftliche Konflikte lassen sich daher nicht auf ökonomische reduzieren, sondern sind immer auch moralische und religiöse. Im – auch massenmedial ausgetragenen – Kampf um Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit werden die Menschen von der Angst vor der Bedeutungslosigkeit getrieben.
Auch die Schuldfrage und damit die Frage nach Vergebung und Annahme sind nicht wirklich verschwunden. Das von moralischen Schuldgefühlen geängstigte Gewissen mutiert vielmehr zum narzisstisch gekränkten Gewissen, das – psychoanalytisch gesprochen – weniger vom Versagen gegenüber dem Über-Ich als gegenüber dem eigenen Ich-Ideal bedrückt wird. Die traditionelle Sprache der Rechtfertigungslehre muss zwar für die Gegenwart neu erschlossen werden, sie ist aber nicht zu eliminieren oder völlig zu ersetzen, weil das geängstigte Gewissen im Sinne Luthers und das moderne gekränkte Gewissen keine Alternative bilden.
Schon in der biblischen Überlieferung lässt sich der Kampf um Anerkennung auf Schritt und Tritt festmachen. Das Phänomen der Sünde und das Streben nach Anerkennung gehören bereits nach alttestamentlicher Auffassung zusammen. Als Kain sich von Gott gegenüber seinem Abel zurückgesetzt fühlt, erschlägt er diesen (Gen 4,1–16). Die Schlange verheißt Adam und Eva im Paradies, sie würden sein wie Gott, wenn sie sich über das göttliche Verbot hinwegsetzen und vom Baum der Erkenntnis essen würden. Man kann die Sünde geradezu als das Streben des Menschen definieren, wie Gott sein zu wollen, also nicht etwa nur Anerkennung durch Gott zu erfahren, sondern sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Paulus bestimmt den sündigen Menschen radikal als Feind Gottes. Die paulinische Rechtfertigungslehre aber besagt, dass Gott die Feindschaft des Menschen überwindet und ihn um Christi willen trotz seiner Sünde bedingungslos annimmt und somit anerkennt. Die bedingungslose Anerkennung durch Gott hebt nach paulinischem Verständnis nicht etwa jede Verantwortlichkeit des Menschen auf, sondern begründet sie allererst. Theologisch betrachtet liegt der Rechenschaftspflicht des ethischen Subjekts nämlich die Rechtfertigung, d.h. aber die Gerechtsprechung des Gottlosen durch den gnädigen Gott voraus.
Die Rechtfertigung des Gottlosen bedeutet aber auch, dass dieser sich auf neue Weise als Geschöpf Gottes versteht. Das Ziel der Rechtfertigung ist ein neues Verständnis der menschlichen Geschöpflichkeit. Indem das gestörte Verhältnis zu Gott wiederhergestellt wird, gewinnt der Mensch auch ein neues Verhältnis zur Natur, die ihm nun als Schöpfung aufgeht. Darin besteht der schöpfungstheologische Sinn der Aussage des Paulus in 2Kor 5,17: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung.“ Die rechtfertigungstheologische Konsequenz aus diesem Sachverhalt hat vor allem Martin Luther in seiner Erklärung zum ersten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses gezogen. Der Glaube an den Schöpfer wird in diesem Text als Bekenntnis zur eigenen Geschöpflichkeit formuliert, das Handeln des Schöpfers an seinem Geschöpf als Weise seiner bedingungslosen, unverdienten Gnade, d.h. als Zeichen der Rechtfertigung des Sünders.
6. Rechtfertigung und Ethik
Die Rede vom sich selbst und den Menschen rechtfertigenden Gott ist Rede vom Handeln Gottes am Menschen und der Welt. Sie eröffnet ein spezifisch theologisches Verständnis von Freiheit, welche die Grundbedingung allen Handelns ist. Als Handlungstheorie kann eine in der Rechtfertigungslehre begründete theologische Ethik nur insofern gelten, als mit dem Handlungsbegriff auch das vorgängige Verständnis von Ethik der Kritik unterzogen wird. Das spezifisch reformatorische Verständnis von Rechtfertigung besteht in der bedingungslosen Vorgabe des Heils und damit in der klaren Unterscheidung zwischen dem empfangenden und dem tätigen Wesen des Glaubens. In der Folge zeigt sich, dass die Ethik der Rechtfertigungslehre nicht so sehr eine solche des Tuns als vielmehr des Lassens ist. Plakativ lautet das Motto einer an der Rechtfertigungslehre gewonnenen Ethik des Sein-Lassens in Umkehrung des Satzes aus Jak 1,22: „Seid aber Hörer des Wortes und nicht Täter allein, wodurch ihr euch selbst betrügt!“ Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. Das Hören des Wortes Gottes ist allerdings ebenso wenig gegen das menschliche Tun auszuspielen wie umgekehrt, doch liegt nach biblischer Auffassung ein eindeutiges Gefälle vom Hören zum Tun vor, so dass dem Hören theologisch der Primat zukommt.
Das Hören des Wortes Gottes weist ein in eine Ethik des Lassens, die Gott Gott und den Mitmenschen ihn selbst sein lässt, statt über ihn und die Welt eigenmächtig verfügen zu wollen. Das ethische Grundproblem ist, wie Mostert zutreffend schreibt, „weniger im Engagement als in der Distanznahme zum andern zu sehen, der aus dem Zugriff des Subjekts befreit werden muß“. Die Anerkennung des Anderen, die ihm das Seine zukommen lassen will und auf sein Wohlergehen bedacht ist, drückt sich in einer theologisch reflektierten Zurückhaltung aus. Es kommt eben keineswegs darauf an, mit Marx gesprochen, die Welt oder unsere Mitmenschen nach unseren Vorstellungen zu verändern oder zu verbessern, sondern darauf, sie zu verschonen.
Die Gnadenlosigkeit einer übertribunalisierten Lebenswelt lässt die Frage nach einer Kultur des Erbarmens und des Verzeihens laut werden. Nach Hannah Arendt war es Jesus von Nazareth, der die Bedeutung des Verzeihens für den Bereich menschlicher Angelegenheiten entdeckt hat. Allenfalls noch bei den Römern, im – den Griechen der Antike unbekannten – Prinzip der Schonung der Besiegten glaubt Arendt außerhalb der Evangelien Spuren der Einsicht in die Relevanz der Vergebung für den Schaden, den alles Handeln unweigerlich mit anrichtet, zu finden.
Arendts ungemein erhellenden Ausführungen zur Kultur des Verzeihens sehen im religiösen Kontext der Verkündigung Jesu lediglich deren Entdeckungs-, nicht aber ihren unaufgebbaren Begründungszusammenhang. Wenn Arendt behauptet, Jesus habe die Ansicht vertreten, nicht nur Gott, sondern auch die Menschen hätten die Macht, Sünden zu vergeben, ebnet sie den Unterschied zwischen Schuld und Sünde ein, der für das christliche Sündenverständnis zentral ist. Denn mit Sünde sind doch jene Formen der Schuld bezeichnet, die uns zwischenmenschlich unvergebbar erscheinen. Mehrfach wird Jesus in den Evangelien dafür scharf kritisiert, dass er sich anmaße, Sünden zu vergeben, was doch Gottes Sache allein sei. Auch ist zu fragen, woher Menschen die Motivation und die Größe gewinnen, anderen zu vergeben, statt Rache zu üben. Es ist daher gegenüber Arendt zwischen Verzeihung und Vergebung zu unterscheiden.
In der Tat besteht die religiöse Provokation Jesu genau darin, dass er die Vollmacht beansprucht, im Namen Gottes Sünden zu vergeben, die wir für unverzeihlich halten, weil ihre Folgen so immens sind, dass sie jedes menschliche Maß an Wiedergutmachung übersteigen. Das Neue Testament begreift schließlich den Tod und die Auferweckung Jesu als definitiven göttlichen Akt der Vergebung, durch den das radikal Böse überwunden wird. Mehr noch, es deutet den Tod Jesu als Inbegriff göttlicher Feindesliebe (Röm 5,10), in welcher die Zuspitzung des Gebotes der Nächstenliebe zum Gebot der Feindesliebe (Mt 5,38-48) ihren eigentlichen Grund hat. Die göttliche Vergebung aber zielt auf endgültige und universale Versöhnung.
Gerade seine religiöse Dimension macht das Christentum zur maßgeblichen Ressource einer Kultur des Verzeihens. Die Säkularisierung religiöser Vokabeln wie Sünde und Vergebung verschüttet dagegen, wie selbst Jürgen Habermas kritisiert, das Surplus ihrer Sinngehalte, auf die eine säkulare Kultur angewiesen bleibt. Wer Arendts Ausführungen zu den unvergebbaren, da auch unbestrafbaren Taten, das heißt zu solchen Taten, deren ungeheuerliche Schuld durch keine irdische Strafe gesühnt werden kann, im Ohr hat, wird vielleicht den Sinn der biblischen Rede vom Jüngsten Gericht neu verstehen. Die neuzeitliche Kritik des Gerichtsgedankens und der christlichen Sündenlehre, gerade in ihrer reformatorischen Zuspitzung, erweist sich als trügerisch, denn mit dem religiösen Begriff der Sünde ist auch die Dimension der Gnade abhanden gekommen. Der Mensch als Letztverantwortlicher und Angeklagter kann auf keine Instanz mehr hoffen, die ihn freispricht. Der Gerichtsgedanke ist eine Implikation der christlichen Gewissheit, dass bei Gott auch in Sachen Vergebung kein Ding unmöglich ist. Ohne den Gedanken des richtenden Gottes verliert auch derjenige des gnädigen Gottes seine Plausibilität.
„Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt“ nach Hannah Arendt „in der menschlichen Fähigkeit, zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit – und damit gegen die chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen – liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten.“ Das Evangelium aber ist seinem Wesen nach genau dies: ein Versprechen, besser gesagt: ein Zuspruch. Durch das Versprechen seiner Liebe und seines Erbarmens bindet sich der Gott des Evangeliums in Ewigkeit an den Menschen. Das Evangelium ist die Zusage bedingungsloser Liebe, in der die Kultur des Verzeihens und des Versprechens ihren letzten Grund haben.
Rechtfertigung bewirkt Versöhnung. Sie hat in der von Gott selbst in Christus gestifteten Versöhnung zwischen Gott und Mensch ihren Grund. Versöhnung hat das Gedächtnis der Toten und ihrer Leiden einzubeziehen. Daher kann es Vergebung und Versöhnung unter den Lebenden nur geben, wenn sie zugleich ein mit den Toten solidarisches Handeln sind. Das biblische Wort von der Versöhnung aber verweist auf Kreuz und Auferstehung Jesu als letzten Grund göttlicher Solidarität mit den Opfern der Geschichte und somit auf den letzten Grund einer Hoffnung auf Versöhnung in kosmischen Dimensionen, die keinen, der je gelebt und gelitten hat, ausschließt. Diese Hoffnung gilt es im Leben und Handeln aus Glauben praktisch zu bewähren. Leben aus der Kraft der Versöhnung ist also Leben im eschatologischen Horizont des Reiches Gottes. In diesen Horizont sind alle menschlichen Bemühungen um Versöhnung gestellt, ohne ihn freilich je einholen zu können.
O. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner
Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft
Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien
Schenkenstraße 8–10
A-1010 Wien
E-Mail: ulrich.koertner@univie.ac.at
Homepage: https://etfst.univie.ac.at/ueber-uns/team/ulrich-koertner/
Sparkasse Leipzig
IBAN: DE60 8605 5592 1100 8854 00
BIC: WELADE8LXXX