Forum Kirche und Theologie:
Kontroverses
Prof. Dr. Alexander Dietz
Emotionalisierung – Moralisierung – Radikalisierung
1. Einleitung
Emotionalisierung, Moralisierung, Radikalisierung: Diese drei Begriffe hängen eng miteinander zusammen, bilden große Schnittmengen und hätten auch noch durch den Begriff Politisierung ergänzt werden können. Sie werden im gesellschaftlichen, gerade auch im theologischen, Diskurs meist negativ konnotiert verwendet, können aber punktuell auch im neutralen oder positiven Sinn benutzt werden, beispielsweise wenn Emotionalisierung auf Kommunikationskompetenzen oder Marketingexpertise bezogen wird, wenn Moralisierung philosophisch verteidigt wird als gesellschaftlich wünschenswerte Strategie zur Durchsetzung des vermeintlich moralisch Richtigen [1] oder wenn Radikalisierung im Sinne eines radikalen Eintretens für Gleichberechtigung oder radikaler Nachfolge gefordert wird. An dieser Stelle werden die Begriffe jedoch zur Kennzeichnung und Analyse bestimmter aktueller Fehlentwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft im Allgemeinen und in Kirche und Theologie im Besonderen herangezogen. In den letzten Jahren erschienen dazu einschlägige kritische Publikationen einzelner Theologinnen und Theologen. Exemplarisch seien das im Jahr 2017 erschienene Buch »Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche« von Ulrich Körtner sowie das im Jahr 2022 erschienene Buch »Über kirchliche Propheten mit Tarifvertrag. Plädoyer für eine moralische Abrüstung« von Michael Roth genannt.
2. Emotionalisierung
Emotionalisierung im hier gemeinten Sinne bezeichnet Phänomene einer sich verändernden öffentlichen Kommunikationskultur. Natürlich spielten und spielen Emotionen in Kommunikationsprozessen immer eine Rolle. Nie zählte ausschließlich nur das bessere Argument, schon immer gab es persönliche Empfindlichkeiten oder auch persönliche Angriffe auf Gesprächspartner. Es gibt jedoch die verbreitete Wahrnehmung, dass sich in den letzten zehn Jahren bestimmte Phänomene im Umgang miteinander in der westlichen Welt deutlich verstärkt haben. Diese Wahrnehmung kommt beispielsweise in Umfragen zum Ausdruck, in denen (anders als in früheren Zeiten) die Mehrheit der Befragten nun angibt, aus Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung in der Öffentlichkeit nicht frei zu sprechen,[2] sich nicht gerne mit Andersdenkenden auszutauschen [3] oder Hasskommentare im Internet wahrzunehmen.[4] Die Veränderungen können unter anderem mit der zunehmenden ökonomischen Spaltung zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern, mit dem Erstarken eines politischen Populismus von Links und Rechts, mit dem Einfluss sprachverrohender Kommunikationsformen in sozialen Medien, mit einer hohen Dichte existenzieller globaler Krisen und mit dem Siegeszug bestimmter ideologischer Moden an den Hochschulen zusammenhängen.
In der öffentlichen Kommunikation werden Meinungsunterschiede zunehmend emotional codiert durch eine gefühlsbetonte Sprache, die inflationär emotional aufgeladene Begriffe verwendet (z.B. Menschenverachtung), auf undifferenzierte Schwarz-Weiß-Wertungen setzt, Argumente durch Empörungsbezeugungen oder Gefühls-Appelle (»Wir schaffen das«) ersetzt und den Andersdenkenden verteufelt (»Leugner«). Nach Ulrich Körtner wirkt Emotionalisierung als »Brandbeschleuniger der Demokratiekrise«[5]. Wenn der Vorteil der Demokratie gerade darin liegt, Regierungswechsel durch argumentative Überzeugungsarbeit anstelle von Bürgerkrieg zu ermöglichen, wenn also die Demokratie entscheidend vom Austausch der Argumente lebt, stellt die Ersetzung des Arguments durch emotionale Betroffenheit, die auf demokratische Legitimation verzichten zu können glaubt, eine Bedrohung der Demokratie dar. Julian Nida-Rümelin betont, dass es ohne Respekt vor dem Argument, ohne den argumentativen Diskurs und ohne die optimistische Annahme, dass sich Vernunft und Wahrheit langfristig demokratiegefährdenden Bestrebungen, wie Emotionalisierung oder Desinformation, als überlegen erweisen werden, keine Demokratie geben könne.[6]
Die Emotionalisierung der Diskurskultur führt gegenwärtig im Verbund mit einem identitätspolitischen Aktivismus sowie einer radikal konstruktivistischen Weltanschauung zu einer »postkolonial-queer-feministischen Gegenaufklärung«[7] an den Hochschulen. Ohne die vielfach aufgezeigten Ambivalenzen der Aufklärung und die wissenschaftstheoretischen Grenzen der reinen Vernunft zu leugnen, steht eine Verdrängung rationaler Argumente durch einen Absolutismus des Gefühls offensichtlich im Widerspruch zu allem, was Wissenschaft ausmacht. Allzu sorglos werden Wahrheitsansprüche aller Art als vermeintliche Herrschaftsinstrumente »alter weißer Männer« dekonstruiert, so dass sich auch eine Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Argumenten letztlich erübrigt. Der Andersdenkende muss nicht mehr argumentativ widerlegt, sondern kann ebenso gut durch den Vorwurf, Gefühle verletzt zu haben, zum Schweigen gebracht werden (Cancel Culture). Die Wissenschaftsfreiheit wird eingeschränkt und das Lehrklima vergiftet, indem Studierende dazu ermutigt werden, sich als Träger von Opferidentitäten zu stilisieren, deren Gefühle permanent davor geschützt werden müssen, durch »Mikroaggressionen« in Form einer Konfrontation mit Unbehagen bereitenden Aussagen (die als rassistisch, transphob usw. stigmatisiert werden) »verletzt« zu werden.[8] Das Ergebnis ist eine infantile und überempfindliche – Odo Marquard spricht vom »Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom« – »Generation Beleidigt« (Caroline Fourest), die sich selbst als »woke« bezeichnet und für links hält.[9]
Günter Thomas erkennt den emotionalisierenden Zeitgeist auch in der Kirche wieder. Kirchliche Verlautbarungen hätten einen empört-alarmistischen Charakter, Predigten verbreiteten eine »minimalistische Theologie der Krabbelgottesdienste«,[10] während die tatsächlichen Chancen einer Kommunikation von Gefühlen im Sinne einer mythischen Religion seit langem vernachlässigt würden. Friedrich Wilhelm Graf formulierte schon vor über zehn Jahren seine Kritik daran, dass in der Kirche »argumentativer Streit, intellektuelle Redlichkeit und theologischer Ernst weithin durch Gefühlsgeschwätz […] abgelöst«[11] worden seien, die Predigten an Substanz verloren hätten und die christliche Botschaft einer Infantilisierung zum Opfer gefallen sei. Wahrscheinlich erfasst die Wahrnehmung der Infantilisierung einen wesentlichen Hintergrund des Emotionalisierungstrends. So lässt sich die Prägekraft der sündenvergessenen Romantisierung und quasi-religiösen Idealisierung des Kindes im Gefolge der Reformpädagogik unter dem Einfluss Jean-Jacques Rousseaus (und letztlich der spätantiken heidnischen Popularphilosophie) für unser Denken heute wohl kaum überschätzen.
Auch an der wissenschaftlichen Theologie gehen die problematischen Entwicklungen an den geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fakultäten nicht spurlos vorüber. Als Beispiele für einen emotionalisierend-abkanzelnden Umgang mit Vertretern unliebsamer Positionen können die Morddrohungen gelten, die Ralf Frisch 2019 als Reaktion auf einen Aufsatz erhielt, der sich kritisch mit der Klimabewegung auseinandersetzte, oder die massiven Proteste und Störungen anlässlich eines Vortrags von Jantine Nierop an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen 2022, weil sie den Begriff »biologisches Geschlecht« verwendet hatte. Natürlich haben Gefühle sowohl für den Glauben als auch für Erkenntnisprozesse eine Bedeutung. Wissenschaftliche Theologie muss nicht immer analytisch, sie darf auch hermeneutisch geprägt sein. Dennoch kann sie niemals auf den Anspruch rationaler, intersubjektiver Argumentation, Argumentprüfung und Wahrheitssuche verzichten, denn »der christliche Glaube braucht […] die denkende Verantwortung seiner Inhalte und Vollzüge«[12] und gerade evangelische Theologie lebt von Fundamentalunterscheidungen, in denen die Logik theologischer Vernunft zum Ausdruck kommt.[13]
Was lässt sich aus dezidiert theologischer Perspektive zur Emotionalisierung im beschriebenen Sinne sagen? Meines Erachtens lässt sie sich als Geringschätzung der Vernunft als göttlicher Schöpfungsgabe an den Menschen problematisieren. Eines der eindrücklichsten theologischen Loblieder auf die menschliche Vernunft finden wir in Martin Luthers Disputation über den Menschen – entgegen dem Vorurteil von Luther als Vernunftverächter. Auch wenn er die Begrenztheit und die sündenbedingte Verführbarkeit der Vernunft bekanntlich deutlich beim Namen nannte, formuliert er hier, dass »die Vernunft die Hauptsache von allem ist und vor allen übrigen Dingen dieses Lebens das Beste und etwas Göttliches. Sie ist die Erfinderin und Lenkerin aller Künste, der Medizin, der Rechtswissenschaft und alles dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Ruhm von Menschen besessen wird. […] Sie soll eine Sonne und eine göttliche Macht sein, gegeben um diese Dinge in diesem Leben zu verwalten. Und auch nach dem Fall Adams hat Gott der Vernunft diese Majestät nicht genommen, sondern vielmehr bestätigt.«[14] Dass die Vernunft im Dienst der menschlichen Bestimmung steht,[15] muss von einer ideologiekritischen Theologie in Zeiten der emotionalisierenden Gegenaufklärung besonders betont werden.
3. Moralisierung
Moralisierung im hier gemeinten Sinne bezeichnet Phänomene einer unangemessenen Ausweitung des Einsatzes sowie eines Missbrauchs von Moral. Von Moralisierung kann gesprochen werden, wenn alle Handlungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens primär unter moralischen Gesichtspunkten bewertet werden, was (beispielsweise in der Politik oder der Kunst) zur Unterwerfung unter sachfremde Gesichtspunkte führen kann. Wenn unterschiedliche Meinungen einseitig unter moralischen Vorzeichen interpretiert werden, sind sie nicht mehr richtig oder falsch, sondern gut oder böse. Auf diese Weise wird Moralisierung einerseits zur selbstgerechten Aufwertung des eigenen Standpunkts und der eigenen Person instrumentalisiert [16] und andererseits zur Machtausübung durch Abwertung und Ausgrenzung Andersdenkender. Dabei ist es wichtig, den Begriff der Moralisierung im genannten Sinn einer Fehlentwicklung vom Begriff der Moral als lebensdienlicher und unverzichtbarer Dimension menschlichen Lebens abzugrenzen.
Was hat es für Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Miteinander, wenn die Urlaubsreise als Statement der Ignoranz gegenüber dem Klimawandel interpretiert wird, das Tschaikowsky-Konzert als Unterstützung von Putins Angriffs-Krieg, das Indianerkostüm zu Fasching als Verweigerung einer kritischen Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialismus oder die Fußball-Weltmeisterschaft als Ort zur sexualethischen Positionierung? Insbesondere politische Debatten werden moralisch aufgeladen. Hermann Lübbe wandte sich schon vor einigen Jahrzehnten in seinem gleichnamigen Buch gegen politischen Moralismus, worunter er unter anderem einen moralisierenden Dauerton in der politischen Rhetorik, die politische Selbstermächtigung zum Verstoß gegen geltendes Recht unter Berufung auf eine höhere Moral sowie die Bezweiflung der moralischen Integrität der Argumente des politischen Gegners anstelle einer argumentativen Auseinandersetzung mit diesen versteht.[17] Wenn man eine andere Position nicht nur für falsch, sondern für böse hält, wird man ihr und ihrem Verfechter gegenüber umso intoleranter sein, das heißt ihn und alle, die sich nicht von ihm distanzieren, ausgrenzen. Eine Verständigung ist nicht mehr möglich, ebenso wenig eine sachlich-differenzierte Auseinandersetzung mit komplexen politischen Fragen. Kai Funkschmidt bringt es auf den Punkt: »Wer überzeugt ist, den Weltuntergang abwenden zu müssen, kann keinen Kompromiss mehr gutheißen und sieht den demokratisch legitimierten politischen Gegner als Feind, als Hindernis bei der Verwirklichung des summum bonum.«[18]
Vertreter eines solchen Moralismus sind bestrebt, den Wissenschaftsbetrieb zur Inszenierung von Wissenschaftlichkeit bestimmter moralischer Positionen zu instrumentalisieren und ihn als Voraussetzung dafür zu moralisieren. Wissenschaftler mit dem Selbstverständnis politischer Aktivisten, nicht nur in der Migrations- oder Genderforschung, betrachten Forschung und Lehre in erster Linie als Instrumente zur Gestaltung der Gesellschaft nach ihren moralischen Vorstellungen. »Nicht agendakonforme Forschung und Lehre wird mit dem wissenschaftsfremden Mittel der moralischen Diskreditierung delegitimiert.«[19] Ökonomische Abhängigkeitsstrukturen (beispielsweise Forschungsgelder, leistungsabhängige Gehaltsanteile, befristete Beschäftigungsverhältnisse), die im Zuge der Ökonomisierung der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewannen, führen dazu, dass sich kaum ein Wissenschaftler dem gegenwärtigen »woke turn« in seinem Gebiet widersetzt. Sowohl der Deutsche Hochschulverband [20] als auch die Konrad-Adenauer-Stiftung [21] haben in den letzten Jahren ihre Sorgen zum Ausdruck gebracht angesichts der an Hochschulen verbreiteten ideologischen Diskursverweigerung sowie Stigmatisierung abweichender wissenschaftlicher Meinungen als unmoralisch.
Die Kirche nutzte in ihrer Geschichte häufig ihre Macht zum Moralisieren aus. Seit der Aufklärung wurde Religion programmatisch moralisch gedeutet und Theologie in moralische Kategorien übersetzt. Allerdings stellte die Botschaft von der supramoralischen Liebe und Gnade immer wieder ein inhärentes Korrektiv dar. Im Zuge der Säkularisierung beerbte die Moral teilweise die Religion. Friedrich Nietzsche formulierte pointiert: »Wer Gott fahren ließ, hält umso strenger am Glauben an die Moral fest.«[22] Anstatt die – nun gnadenlos gewordene – säkulare Moralisierung zu transzendieren, übernimmt die gegenwärtige Kirche diese und radikalisiert sie sogar noch. Sie setzt »sich an die Spitze des Moralisierungstrends«[23] unter Inkaufnahme der Gefahr, ihre wesentliche Botschaft zu verschleiern oder sogar zu konterkarieren. Darum wirft Hans Joas der Kirche vor, eine reine Moralagentur geworden zu sein, und plädiert dafür, dass die Kirche sich wieder auf ihre eigentliche theologische Bedeutung besinnen sollte.[24] Diese Kritik löste eine theologische Debatte zum Stellenwert moralischer Kommunikation innerhalb der Kirche aus. Nicht selten lässt die Kirche sich im Sinne eines politischen Moralismus instrumentalisieren, indem sie politische Konflikte zu moralischen erklärt und dabei bestimmte moralische Positionen sakral überhöht, dadurch eine bestimmte Parteipolitik (nämlich eine rot-grüne, wie empirisch nachgewiesen wurde [25]) religiös auflädt, mit einem unbedingten Wahrheitsanspruch versieht und quasi lehramtlich zum Gegenstand eines status confessionis erklärt.
Auch theologische Wissenschaft lässt sich im Sinne eines politischen Moralismus instrumentalisieren und unternimmt zu wenig gegen eine Gefährdung der intellektuellen Redlichkeit sowie Freiheit des wissenschaftlichen Diskurses durch Moralisierung. Dietz Lange beobachtet für den Bereich der Theologie einen neuen versteckten Dogmatismus auf der Basis der so genannten political correctness. Unter selbstgerechter Inanspruchnahme religiöser Autorität für moralische Fragen wird Sprache zensiert, werden Andersdenkende diskreditiert (bevorzugt unter Instrumentalisierung der deutschen Geschichte) und werden undifferenzierte, teilweise ideologische Positionen als alternativlos behauptet.[26]
Was lässt sich aus dezidiert theologischer Perspektive zur Moralisierung im beschriebenen Sinne sagen? Einmal mehr erweist sich Dietrich Bonhoeffer als überraschend aktuell, wenn er theologisch fordert, das Moralische auf seine bestimmte Zeit und seinen bestimmten Ort zu begrenzen, damit es nicht zu einer Fanatisierung, einer gänzlichen Moralisierung des Lebens komme, welche uns zu Heuchlern und Quälgeistern mache und sowohl die tatsächliche unbedingte ethische Forderung als auch das Evangelium vernebele.[27] Wenn Moral zur religiösen Übung wird, um sich Anerkennung zu verschaffen, sich selbstgerecht zu inszenieren und seine Rechtfertigung selbst in die Hand zu nehmen, verdunkelt sie die Evangeliumsbotschaft. Moralisierung bedeutet theologisch, dass das Gesetz zum Evangelium gemacht wird. Aber Moral kann nicht erlösen. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als Kern reformatorischer Theologie stellt nicht den ethischen Anspruch in Frage, der aus dem christlichen Glauben folgt, aber sie hält an der grundlegenden Einsicht fest, ohne die die christliche Botschaft bis zur Unkenntlichkeit verfälscht würde, dass »das Evangelium insofern transmoralisch [ist], als es den Menschen neu in die Beziehung zu Gott versetzt, so dass er aus der Erfahrung und Gewissheit lebt, dass die eigene Existenz nicht im eigenen Handeln gründet und nicht in diesem ihren letzten Sinn findet.«[28] Auf dieser Grundlage müssten nach Ulrich Körtner Kirche und Theologie »der Tyrannei des moralischen Imperativs«[29] Einhalt gebieten, sowohl im Sinne einer Entmoralisierung der Theologie und des Evangeliums, als auch im Sinne einer Entmoralisierung gesellschaftlicher Diskurse – sonst bleiben sie »der Gesellschaft den wichtigsten Beitrag schuldig, den sie leisten«[30] können.
4. Radikalisierung
Radikalisierung im hier gemeinten Sinne bezeichnet eine Zunahme ethischer und politischer Positionen und Haltungen, die den Menschen und die Gesellschaft von Grund auf, von der Wurzel her verändern möchten, um einen Heilszustand ideologischen, teils totalitären Charakters herzustellen, und dabei intolerant und kompromisslos, mit Rücksichtslosigkeit und Härte vorzugehen bereit sind.
Gefördert wird die Radikalisierung durch einen Trend zur gesellschaftlichen Fragmentierung, der seit etwa zehn Jahren noch an Dynamik gewonnen hat und durch Ökonomisierungsphänomene ebenso befördert wird wie durch Politisierungs- und Moralisierungsphänomene. Insbesondere identitätspolitische Ansätze von Links und Rechts forcieren eine Zersplitterung der Gesellschaft in viele Subkulturen und selbstgewählte Nischen, die sich voneinander abschotten, sich gegenseitig verteufeln und so eine Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts bewirken. Neue technische Möglichkeiten, wie die automatische Ausfilterung von Informationen, die dem eigenen Weltbild widersprechen, durch individualisierte Suchmaschinen-Algorithmen (Filterblasen-Effekt) oder die Ausgrenzung von Personen, die das eigene Weltbild nicht bestätigen, per Mausklick aus virtuellen sozialen Netzwerken (Echokammer-Effekt), verstärken diese destruktive gesellschaftliche Fragmentierung weiter. Nach einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung, die 2023 erschienen ist, vertrauen 54 Prozent der Menschen in Deutschland der Demokratie nicht mehr, 75 Prozent nehmen einen Rückgang des gesellschaftlichen Zusammenhalts wahr (als Gründe werden insbesondere Egoismus, Social Media und politischer Extremismus genannt), 54 Prozent glauben an mindestens eine Verschwörungstheorie. Die überwiegende Mehrheit nimmt starke Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen wahr, beispielsweise zwischen Befürwortern und Gegnern von Coronamaßnahmen, hoher Zuwanderung oder strengen Klimaschutzmaßnahmen.[31]
Auch in der Wissenschaft sind Echokammern entstanden, in denen immer radikalere Positionen entwickelt werden. Barbara Holland-Cunz charakterisiert beispielsweise ihr Fachgebiet, die Genderforschung, folgendermaßen: »Die sektenförmige Struktur erzeugt nach außen hin eine ausgeprägte Hermetik und nach innen eine Atmosphäre der zirkulären Selbstaffirmation.«[32] Die wachsende Intoleranz gegenüber anderen Positionen, verbunden mit einer ideologischen Reinheitsdoktrin, hat »ein Klima der intellektuellen Unfreiheit hervorgebracht [und] zeigt sich unter anderem an der Aggressivität, mit der die Absage von Veranstaltungen mit [inopportunen] Gastrednern gefordert wird«[33]. Die Leitungsebenen an den Hochschulen beugen sich meist dem Druck, da sie selbst Angst davor haben, ins Visier von aggressiven Aktivisten zu geraten, deren Ziel die moralische Diskreditierung ist.[34]
Die EKD hat sich in ihrem Impulspapier »Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung« von 2017 mit der Verrohung der gesellschaftlichen Streitkultur und der daraus resultierenden Gefährdung der Demokratie auseinandergesetzt. Das Impulspapier benennt die kirchliche Verantwortung, zur Stärkung des demokratischen Gemeinwesens und der demokratischen Diskurskultur beizutragen. Immerhin wird auch selbstkritisch gefragt, ob nicht auch innerhalb der Kirchen »manche in politischen Diskursen vertretene moralische Überzeugung als eine Stigmatisierung anderer Positionen verstanden werden kann und damit den Abbruch der demokratischen Auseinandersetzung mit sich bringt, anstatt die Demokratie zu stärken«[35]. Manche Kritiker werfen der EKD noch deutlicher vor, dass sie sich zu unkritisch dem Zeitgeist unterwerfe, indem sie sich einseitig radikale politische Positionen, meist erkennbar grüne, zu eigen mache und sie jeweils zu den einzig evangeliumsgemäßen erkläre. Häufig genannt werden in diesem Zusammenhang das EKD-Rettungsschiff sowie die uneingeschränkte Solidarisierung mit Fridays for Future und der Klimaaktivistengruppe Letzte Generation.[36] Wie sollen Kirchenmitglieder reagieren, wenn kirchliche Institutionen sich einerseits mit radikalen politischen Aktivisten solidarisieren und andererseits aktiv zur Ausgrenzung Andersdenkender beitragen? Günter Thomas fragte die Präses der EKD-Synode Anna-Nicole Heinrich in einem offenen Brief: »Soll ich einfach schweigen? Soll ich mich irgendwie fügen und unterordnen? Legen Sie mir nahe, die Evangelische Kirche zu verlassen?«[37]
Die theologische Wissenschaft steht als Geisteswissenschaft im Zentrum der woken Radikalisierung an den Hochschulen. Die Lehrenden verhalten sich überwiegend angepasst. Die früher geschätzte Vielfalt theologischer Ansätze und Überzeugungen ist einer weitgehenden Homogenität gewichen. Die radikalen Forderungen werfen theologische, hochschulpolitische und wissenschaftsethische Fragen auf: Befinden wir uns tatsächlich in einem ökologisch-politischen Ausnahmezustand, in dem auch theologische Wissenschaft ihre bisherigen Grundlagen infrage stellen und sich radikalisieren muss? Wer definiert nach welchen Kriterien, welche Methoden und Positionen in den verschiedenen theologischen Disziplinen künftig als vermeintlich indiskutabel zu gelten haben bzw. Studierenden nicht zugemutet werden dürfen?
Was lässt sich aus dezidiert theologischer Perspektive zur Radikalisierung im beschriebenen Sinne sagen? Nach Dietrich Bonhoeffer lässt sich Radikalität als theologisch unangemessener Versuch deuten, die Spannung von Vorletztem und Letztem im christlichen Leben aufzulösen. Hinter Radikalität steht, so Bonhoeffer, Hass auf das Vorletzte, auf das Bestehende, auf die Schöpfung. Demgegenüber müsse das Vorletzte um des Letzten willen gewahrt bleiben, da die Erlösung des Menschen seine Erhaltung voraussetze.[38] Ähnliche theologische Einsichten bewegten schon Martin Luther zu seiner Polemik gegen den radikalen Flügel der Reformation, die so genannten Schwärmer. Eines der Kennzeichen dieser Gruppen war eine Betonung der Ethik, verbunden mit den Ansprüchen einer Sammlung der wahren Christen in der Kirche sowie einer Errichtung des Reiches Gottes auf Erden. Neben den Tendenzen zur Werkgerechtigkeit sowie zu einer Vergesetzlichung des Evangeliums ignoriert der Versuch einer Errichtung des Reiches Gottes auf Erden den eschatologischen Vorbehalt, also die Unterscheidung von Vorletztem und Letztem, sowie die Unterscheidung zwischen dem Werk Gottes und dem Werk der Menschen. Die Möglichkeiten des Menschen werden überschätzt, weil die Macht der Sünde nicht ernst genug genommen wird.[39] An radikalen ethischen oder politischen Ansätzen, die mit dem Charakter von Heilslehren die Sünde überwinden und einen innerweltlichen Heilszustand herstellen möchten, muss aus theologischer Sicht Ideologiekritik bzw. Götzenkritik geübt werden, denn sie nehmen das Vorletzte und die Sünde nicht ernst genug.
[1] Vgl. Corinna Mieth/Jacob Rosenthal, Spielarten des Moralismus, in: Christian Neuhäuser/Christian Seidel (Hrsg.), Kritik des Moralismus, Berlin 2020, 35-60, 59.
[2] Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach, Die Mehrheit fühlt sich gegängelt, 2021, URL: https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/FAZ_Juni2021_Meinungsfreiheit.pdf (Stand: 02.09.2023).
[3] Vgl. Alexander Kissler, Toleranz lässt sich nicht verordnen, in: NZZ vom 28.07.2022, URL: https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/toleran z-die-meisten-deutschen-vermissen-sie-und-haben-recht-ld.1695419?mkt cid =smsh&mktcval=E-mail (Stand: 02.09.2023).
[4] Vgl. Landesanstalt für Medien NRW, Hate Speech Forsa-Studie, Düsseldorf 2023, URL: https://www.medienanstalt-nrw.de/fileadmin/user_upload/NeueWebsite_0120/Themen/Hass/forsa_LFMNRW_Hassrede2023_Praesentation.pdf (Stand: 02.09.2023).
[5] Ulrich Körtner, Für die Vernunft, Leipzig 2017, 23.
[6] Vgl. Julian Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, München 2006, 41 und 47ff.
[7] Alexander Zinn, Gefühlte Wahrheiten. Wie LGBTI-Aktivismus die Wissenschaftsfreiheit bedroht, in: Sandra Kostner (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit (ZfP, Sonderband 10), Baden-Baden 2022, 167-181, 181.
[8] Vgl. Sandra Kostner, Hochschulen in den 2020er Jahren. Intellektuelle Vielfalt oder intellektuelle Lockdowns?, in: Dies. (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit (ZfP, Sonderband 10), Baden-Baden 2022, 7-30, 14ff.
[9] Vgl. Norbert Bolz, Der alte weiße Mann, München 2023, 11ff. und 54f.
[10] Günter Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben. Impulse zur Verantwortung für die Kirche, Leipzig 2020, 352.
[11] Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung, München 2011, 21.
[12] Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin 52018, 14.
[13] Vgl. Körtner, Vernunft, 93.
[14] Martin Luther, Disputation über den Menschen, in: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, 663-669, 665.
[15] Vgl. Wilfried Härle, Vertrauenssache. Vom Sinn des Glaubens an Gott, Leipzig 2022, 141.
[16] Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt 2007, 96ff.
[17] Vgl. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 1987, 26 und 120.
[18] Kai Funkschmidt, Wer rettet die Welt? Heilsversprechen in der Umwelt- und Klimabewegung, in: Detlef Hiller/Daniel Straß (Hrsg.), Morphologie der Übermoral. Zum Moralismus in gesellschaftlichen und theologischen Debatten, Leipzig 2023, 163-188, 186.
[19] Kostner, Hochschulen, 7.
[20] Vgl. o.V., Resolution des 67. Deutschen Hochschulverbands-Tages vom April 2017, in: Forschung und Lehre 5/2017, 404f.
[21] Vgl. Konrad Adenauer Stiftung (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit. Argumente für mehr Rücksicht auf ein gefährdetes Grundrecht, Berlin u.a. 2017, 17f.
[22] Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, Stuttgart 131996, 19.
[23] Michael Roth, Über kirchliche Propheten mit Tarifvertrag. Plädoyer für eine moralische Abrüstung, Stuttgart 2022, 13.
[24] Vgl. Hans Joas, Kirche als Moralagentur?, München 2016.
[25] Vgl. Daniel Thieme/Antonius Liedhegener, »Linksaußen«, politische Mitte oder doch ganz anders? Die Positionierung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im parteipolitischen Spektrum der postsäkularen Gesellschaft, in: Politische Vierteljahresschrift 56 (2015), 240–277.
[26] Vgl. Dietz Lange, Political correctness– Ideologie – Dogmatismus, in: ZThK 114 (2017), 440–470, 444ff.
[27] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München 1985, 281ff.
[28] Ulrich Körtner, Moralisierung und Entmoralisierung des christlichen Glaubens, in: Jochen Sautermeister (Hrsg.), Kirche – nur eine Moralagentur? Eine Selbstverortung, Freiburg 2019, 97-116, 105.
[29] Körtner, Vernunft, Leipzig 2017, 6.
[30] A.a.O., 100.
[31] Vgl. Volker Best u.a., Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft?, Bonn 2023, URL: https://library.fes.de/pdf-files/pbud/20287-20230505.pdf (Stand: 07.09.2023), 17, 41ff. und 53.
[32] Barbara Holland-Cunz, Affiziert von den aktivistischen Anfängen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Konstitutionsphase der Gender-Studies, in: Sandra Kostner (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit (ZfP, Sonderband 10), Baden-Baden 2022, 147-164, 164.
[33] Kostner, Hochschulen, 8.
[34] A.a.O., 13.
[35] Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung. Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Konsens und Konflikt, Hannover 2017, 28.
[36] Vgl. Thomas Martin Schneider, Kirche ohne Mitte? Perspektiven in Zeiten des Traditionsabbruchs, Leipzig 2023, 68ff. und 163.
[37] Günter Thomas, Offener Brief vom 18.11.2022,
URL: http://www.ev.ruhr-uni-bochum.de/mam/systheol/downloads/thomas_offener_brief_pr%C3%A4ses_heinrich_18.nov.2022.pdf
(Stand: 08.09.2023).
[38] Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 135ff. und 143.
[39] Vgl. Alexander Dietz, Staatsvergessenheit als Ausdruck von Sündenvergessenheit? Zur Gefahr des »Schwärmertums« für die evangelische politische Ethik, in: Ders. u.a., Wiederentdeckung des Staates in der Theologie, Leipzig 2020, 29-65, 53ff.
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