Forum Kirche und Theologie:
Kontroverses
Ralf Frisch
Die Unübersetzbarkeit Gottes
Ein Plädoyer
Der theologisch tollwütige Narr, den Friedrich Nietzsche prophetisch Amok laufen lässt, brüllt: „Wir haben Gott getötet.“ Und er fragt sich und uns, die Mörder und Mörderinnen Gottes: „Aber wie haben wir dies gemacht?“
Einhundertvierzig Jahre nach Nietzsches „Fröhlicher Wissenschaft“ gibt es darauf viele Antworten. Eine davon will ich hier zur Diskussion stellen, weil ich sie für eine der größten Versuchungen und für eine der gefährlichsten Fallen der gegenwärtigen Theologie und der gegenwärtigen Kirche halte.
Wir haben Gott zu Tode übersetzt.
Der Zug der Zeit
Weil jedes Wir als vereinnahmend und als übergriffig empfunden werden könnte, sage ich, wen ich mit dem Wir meine. Ich meine damit eine Theologie und eine Kirche, die den Anschluss an den Zug ihrer Zeit nicht verpassen will.
Selbst, wenn diese Metapher ein wenig anachronistisch anmuten sollte, weil es im Deutschland des Jahres 2024 aufgrund der Bahnverspätungen nahezu nicht mehr möglich ist, einen Anschluss zu verpassen, dürfte sie doch drei Fragen provozieren, die den Nerv der theologischen Krise unserer Gegenwart treffen. Die Frage, wohin dieser Zug der Zeit fährt. Die Frage, was passiert, wenn Kirche und Theologie den Zug erwischen sollten, dem sie hinterherlaufen. Und die Frage, was mit der Kirche und mit der Theologie geschieht, wenn der Zug der Zeit ohne sie abfahren sollte.
Wohin der Zug der Zeit fährt, weiß kein Mensch. Alle Indizien sprechen dafür, dass er sich von Tag zu Tag weiter von der europäischen Kulturlandschaft entfernt, die einst christliches Abendland hieß. Vieles deutet darauf hin, dass er in einer Weltgegend enden wird, die geopolitisch allenfalls als Grabmal einer großen Vergangenheit und eines noch größeren moralischen Anspruchs der Rede wert sein wird.
Suizidale Strategien
Damit ist eigentlich auch schon die Frage beantwortet, was mit der Kirche und mit der Theologie passieren wird, wenn sie den Zug der Zeit erwischen sollten. Sie werden ebenso der Vergangenheit angehören wie die Welt, die sie derzeit noch für die Zukunft halten. Sie werden den Kulturkampf, den sie gemeinsam mit dem postchristlichen Geist der Gegenwart gegen die christliche Kultur führen, gewinnen und damit verloren sein. Die verschämt kulturimperialistische Hoffnung der sichtbaren Kirche, als unsichtbare Kirche inkognito zu überleben und gesellschaftlich einflussreich zu bleiben, wird sich nicht erfüllen.
Die Vermutung der Theologie, als kulturwissenschaftlich anschlussfähige, aber als Theologie nicht wiederzuerkennende Akteurin zukunftsfähig zu sein, wird nur so lange eine ernstzunehmende Arbeitshypothese sein, wie die Zahl der Kirchenmitglieder noch gesellschaftlich nennenswert ist. Letztlich sind all diese Strategien suizidal.
Wer das Kulturkapital, von dem er zehrt, geradezu programmatisch aufzuzehren im Begriff ist, gleicht einem Menschen im Hungerstreik, dessen kritische Masse sichtlich abnimmt. Ich habe den Eindruck, dass sich die evangelische Volkskirche vor allem in ihren urbanen Milieus und in ihrer öffentlich medialen Gestalt in einem solchen Hungerstreik, also im Modus der Aufnahmeverweigerung christlicher Nahrung befindet und dass auch das Wenigerwerden der Kirchenmitglieder eine Folge dieser Ernährungsverweigerung der Kirche ist. Man könnte auch zu einem anderen medizinischen Bild greifen. Wenn Kirche und Theologie glauben, durch Unkenntlichwerdung zu überleben, ähneln sie Patientinnen, die ihre Autoimmunerkrankung für die Therapie ihres Leidens halten. Wären Kirche und Theologie Künstlerinnen, dann müsste man ihnen mit einem Wortspiel meines Zürcher Kollegen Ralph Kunz signalisieren, dass sie es offenbar eher mit Christo als mit Christus halten, wenn sie ihr Heil in der Verhüllung statt im Outing der Kinder Gottes suchen.
Kinder des Theozän
Die Frage, was mit der Kirche und mit der Theologie passiert, wenn der Zug der Zeit ohne sie abfährt, dürfte die produktivste und interessanteste der drei Fragen sein. Schulterzuckend und süffisant könnte man sagen, dass der Zug immer schon abgefahren ist und dass eine Kirche und eine Theologie, die ihrer Gegenwart nicht die Fackel voran, sondern die Schleppe hinterher tragen, unvermeidlich zum Schlusslicht eines Zeitalters werden und in der Gesellschaft dieses Zeitalters das Nachsehen haben.
Aber man könnte eben auch sagen, dass es einer wahren christlichen Geistesgegenwart gleichgültig ist, wenn der Zug der Zeit ohne sie abfährt. Und zwar deshalb, weil die Theologie und die Kirche gewissermaßen naturgemäß aus der Zeit gefallen sind, also quer zu jeder Zeit stehen. Die Kinder Gottes aller Epochen sind nicht Kinder des Anthropozän. Sie sind Kinder des Theozän beziehungsweise des Christozän. Und als solche stehen sie quer oder besser gesagt im rechten Winkel zu allen Epochen. In einer Zeit, in der Sprachwächterinnen und Sprachwächter jede Formulierung wie Cheruben mit dem flammenden Schwert beäugen, bleibt mir nichts anderes übrig, als an dieser Stelle zu signalisieren, dass die Worte „quer“ und „rechter Winkel“ keine politischen, sondern theologische Ortsangaben sind.
Avantgarden der Anderswelt
Wenn also Kirche und Theologie den Zug der Zeit verpassen, dann stehen sie vielleicht gerade nicht auf verlorenem Posten, sondern dort, wo sie hingehören, aber oft nicht hingehören wollen, weil sie lieber attraktiv und relevant als verschlafen, ewiggestrig, jenseitig oder wunderlich erscheinen möchten. Die Wahrheit ist, dass jede Theologie und jede Kirche, die ihrer andersweltlichen Herkunft, ihrem andersweltlichen Wesen und ihrer andersweltlichen Zukunft die Treue hält und nicht dem vergänglichen Wesen der Welt und schon gar nicht dem Zug des Geistes der Zeit ins Nichts folgt, in ihrer Gegenwart eine befremdliche, erratische und irritierende Figur machen muss.
Unter den Bedingungen einer Gesellschaft, die durch Gewährung und Entzug von Aufmerksamkeit rechtfertigt und verwirft, könnte aber gerade die Sperrigkeit von Theologie und Kirche ihr Hoffnungsschimmer und ihr aus der Zeit gefallenes Anderssein ihr Attraktivitätsgarant sein. Es ist also gerade nicht ausgemacht, dass Theologie und Kirche zum alten Eisen gehören, wenn sie sich als gegenwartsinkompatibel und gesellschaftssystemirrelevant erweisen. Sie könnten vielmehr in Analogie zu den Anfängen der ästhetischen Moderne Avantgarde werden und gerade durch ihr abenteuerliches Anderssein als Antwort auf die Fragen einer mit sich selbst überforderten Zeit in Frage kommen.
Nackt vor Gott
Wenden wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal der verlorenen, vernachlässigten, Anschluss und Anerkennung suchenden Gestalt auf dem Bahnsteig zu. Wo stehen Theologie und Kirche, wenn sie – ein bisschen existenzialistisch und heroisch verklärend zugespitzt – allein auf dem zugigen Bahnsteig ihrer Zeit und ihrer Welt stehen? Ich will es riskant pathetisch ausdrücken: Sie stehen nackt vor der Welt und nackt vor Gott. Sie stehen vor einer Wirklichkeit, die unserer Zeit nicht geheuer ist. Sie stehen vor der letzten Instanz, die alle gerne wären, an die aber kein Mensch im Anthropozän mehr glauben will oder kann. Sie stehen in einer Leere, vor der man angesichts der Unwiderstehlichkeit der modernen Religionskritik nur einen Horror haben kann. Einen horror vacui. Wer in einer Epoche der transzendentalen Obdachlosigkeit vor Gott zu stehen meint, muss aus der Sicht derjenigen Zeitgenossen, die sich in ihrer Zeit bewegen wie Fische im Wasser, einem Menschen gleichen, der vor dem Nichts steht, ins Nichts hineinhört, ins Nichts hineinstiert, ins Nichts hineinweist und mit dem Nichts redet.
John Lennon hätte unseren Christenmenschen auf dem Bahnsteig sicherlich als „Nowhere Man“ belächelt. Aber was sonst, wenn nicht ein Nowhere Man, sollte der christliche Glaube in einer Welt sein, die nicht seine bleibende Stätte ist, weil das Reich seines Herrn nicht von dieser Welt ist?
Nowhere Men and Nowhere Women
Der unlängst verstorbene schottische Schriftsteller John Burnside hat – unwillkürlich im Sinne von Theodor W. Adornos negativer Dialektik – das untergegangene Reich der Metaphysik in diesem „Nowhere“ verortet: „By now, even the metaphysical is being enclosed – so much so that even nowhere … is close to extinct … There is almost nothing left of nowhere … Nowhere is the source of unbidden memories, the hinterland, (the otherworld) … Many of our best ideas come out of nowhere, where the usual orthodoxies do not hold sway. When nothing is left of nowhere, all that remains is whatever passes for worldly authority. Church Dogma. The Age of Reason. Technological Progress. The Stock Exchange. Social Media.“
Als Nowhere Men and Nowhere Women drohen Glaubende auf dem Boden der Tatsachen und Notwendigkeiten einer vermeintlich evidenzbasierten Welt eine seltsame Figur, nämlich die Figur von Märchenerzählern, Seiltänzern und Traumtänzerinnen zu machen. Ihr Stand in der Welt gleicht einem Stand in der Luft und ist, wie Karl Barth vor ziemlich genau einhundert Jahren schrieb, ein „grauenerregendes Schauspiel für alle nicht Schwindelfreien“. Und ihr Zeigefinger, der nicht auf den abgefahrenen Zug, sondern wie der Zeigefinger des Täufers in Mathias Grünewalds Isenheimer Altar auf den Gekreuzigten zeigt, kann in der Epoche des Anthropozän, das Gott für tot erklärt hat, nur ins Nichts zeigen. Aus der Sicht der Schwindelfreien scheint es der Zeigefinger von Schwindlern zu sein, die der Menschheit das X eines Wolkenkuckucksheims für das U der einzig wahren Wirklichkeit vormachen wollen.
Ich bin allerdings zutiefst überzeugt, dass die Zukunft des Christentums davon abhängen wird, wie viele Menschen den Mumm haben, auf zugigen Bahnsteigen oder an anderen Orten oder Unorten der säkularen Welt auszuharren und in den Himmel zu zeigen – wie die Kirchtürme, die in vielen Landstrichen Deutschlands das Einzige sind, das in einer Welt, in der so wenig für Gott spricht, noch von Gott spricht. Schweigend. Läutend. Trotzig daseiend. Und gerade so, auf ihre weltfremde Weise, an eine Antwort auf die Frage erinnernd, die kein Mensch der Welt sich selbst geben kann.
Gegenbilder zur Gottesvergessenheit
Ein menschliches Wesen, das im öffentlichen Raum unter dem Himmel in den Himmel zeigt, ist das Gegenbild zu Nietzsches tollem Menschen, dem man Unrecht tut, wenn man ihn als Inbegriff des schmerzfreien Atheisten diskreditiert. Immerhin lauten seine ersten Worte: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ Das unterscheidet ihn von denjenigen Untergangsverlangsamungsmanagerinnen und -managern der evangelischen Kirche, die Gott nicht einmal mehr vermissen und für die Kirchentwicklung daher eine stillschweigende Probe aufs Exempel ist, ob es auch ohne Gott und ob es ohne Gott nicht vielleicht sogar besser geht.
Ein Mensch, der unter dem Himmel in den Himmel zeigt, ist auch das irritierendste Gegenbild zu einer gottesvergessenen Kirche und zu einer gottesvergessenen Theologie, die insgeheim weiß oder sogar explizit sagt, dass der Himmel leer ist und dass daher alles darauf ankomme, Gott in irgendetwas oder irgendjemand anderen zu übersetzen. Vielleicht sogar mit dem inkarnationstheologischen Hinweis, dass sich Gott ja doch selbst hineinübersetzt hat in unsere Welt.
Von dieser Auffassung, dass Gott wesensmäßig Übersetzung ist, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur These Dietrich Bonhoeffers, dass das Für-andere-dasein Jesu die eigentliche Transzendenzerfahrung ist und dass Glaube nur Glaube bleiben kann, wenn er sich ins Nichtreligiöse hineinübersetzt, also in eine Religionslosigkeit hineinbegibt, deren einzige Anderswelt das Reich des Daseins mitmenschlicher Anderer für Andere ist. Aber so wahr es ist, dass Gott sich in die Welt hineinübersetzt und Mensch wird, so wahr bleibt es auch, dass es zum Wesen Gottes gehört, auch als Menschgewordener Gott zu sein und Gott zu bleiben.
Theologische Euthanasie
Das Wort Gott ist also unübersetzbar. Alle theologischen, pädagogischen und politischen Versuche, es zu übersetzen, um nicht nur Verständnislosigkeit zu ernten, sind theologische Euthanasie. Aber, so Karl Barth, „die Theologie aufgeben hat so wenig Sinn wie sich das Leben zu nehmen; es wird nichts, gar nichts anders dadurch. Also ausharren, nichts weiter.“ Ausharren in aller Anfälligkeit für Selbstzweifel, Ausharren in der Stresszone ausbleibender Anerkennung, Ausharren am Abgrund gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit. Ausharren, den Menschen Gott nicht schuldig bleiben und Friedrich Schillers Rat folgen: „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben.“ Das Wort Gott ist unübersetzbar. Gottseidank. Denn wäre es übersetzbar, wäre es ersetzbar. Und es wäre entgegen der Annahme der Anschlusssüchtigen letztlich dazu verurteilt, nicht aufsehenerregend, sondern uninteressant zu sein.
Eberhard Jüngel notierte einmal, Gott sei um seiner selbst willen interessant oder gar nicht interessant. Alle, auch die wohlmeinendsten und ernsthaftesten Versuche der Übersetzung des Wortes Gott gehen davon aus, dass Gott letztlich uninteressant ist und dass er erst dadurch interessant wird, dass er nicht mehr Gott ist, sondern zu etwas oder zu jemand Anderem wird. Im Anthropozän kann dieser Jemand nur der Mensch sein.
Leerstelle der großen Leere
Vielleicht geistert Gott auch als diffuse Transzendenz und als namenloses Numen, gleichsam als Wort kurz vor dem Verstummen, als Platzhalter einer großen Sehnsucht und als Leerstelle der großen Leere unserer Zeit durch die Diskurse und Lebenswelten. Vielleicht erinnert das Wort Gott ja irgendwie an ein Geheimnis der Welt, also daran, dass die Welt von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann. Wenn es so sein sollte, dann hätte diese Schwundstufentheologie wenigstens noch eine Restahnung davon bewahrt, dass das, was ist, nicht alles ist und dass das, von dem man hundertmal glaubt, dass es ihn nicht gibt, ja vielleicht doch fehlt. Wenn dagegen selbst diese Restahnung und Restsehnsucht in den gesellschaftlichen, kirchlichen und theologischen Reißwölfen des moralischen Reduktionismus geschreddert ist, trifft die brutale Analyse von Nietzsches tollem Menschen zu. Gott ist dann endgültig „unter unseren Messern verblutet“. Die heilsame Differenz und die heilsame Spannung von Welt und Anderswelt sind endgültig implodiert.
Die heillos überforderten Götter des Anthropozän
Dietrich Bonhoeffer fragte Eberhard Bethge in einer vermutlich ziemlich angespannten Situation aus dem Gefängnis von Tegel heraus: „Wie sollen Menschen wohl irdische Spannungen aushalten, wenn sie von der Spannung zwischen Himmel und Erde nichts wissen?“ Wie sollen Menschen ihr Dasein unter dem klaffenden Abgrund eines leeren Himmels aushalten, ohne „selbst zu Göttern zu werden“? Und wer soll diese Götter davor bewahren, wie die Götter im Trojanischen Krieg übereinander herzufallen? Wie sollen Menschen im Unheil der Welt ihr Heil finden, wenn sie es in der Flucht zu Gott nicht mehr finden können und immer nur sich selbst, ihren Illusionen von sich selbst und ihrer Überforderung mit sich selbst begegnen? Wie soll Menschen nicht der Himmel auf den Kopf fallen, wenn das Gewicht der Weltrettung allein auf ihren Schultern lastet, sie aber dieses Gewicht nicht zu stemmen vermögen, weil sie eben doch nicht Gott, sondern Menschen sind? Wie sollen sie einander und sich selbst im Kampf um letztinstanzliche Anerkennung nicht selbstgerecht den Garaus machen, wenn sie nicht mehr die Gewissheit haben, ihr Leben im Angesicht einer letzten Instanz zu führen, die Richter und Retter ist und aus deren Gnade sie leben? Und wie soll der christliche Glaube als kulturprägende und kulturschaffende Kraft zu retten sein, wenn die Säkularisierung selbst von den Männern und Frauen Gottes bejubelt wird, weil sie davon überzeugt sind, dass einzig und allein das unsichtbare und anonyme Christentum humanitärer Zwischenmenschlichkeit die Kraft hat, es mit den menschenverachtenden kulturimperialistischen religiösen und politischen Akteuren unserer Epoche aufzunehmen?
Ein unübersetzbarer und unersetzbarer Unterschied
Nein. Kirche und Theologie werden nur dann eine Zukunft haben, wenn sie ihrem Namen Ehre und einen Unterschied machen – einen unübersetzbaren und vielleicht auch unersetzbaren Unterschied. Den Unterschied von Botschaftern des unübersetzbaren und unersetzbaren Gottes, die wissen, dass Menschen Menschen sind, dass Gott Gott ist und dass allein Gott die menschlichen und die unmenschlichen Menschen vor sich selbst und vor den Dämonen ihrer Welt und ihres Lebens erlösen kann. Kirche und Theologie werden nur dann eine Zukunft haben, wenn sie den Unterschied des singulären Gottes machen, von dem man singen, sagen, erzählen und zu dem man beten muss, weil sein Geheimnis und seine welterlösende Kraft anders denn durch die Kraft gegenkultureller Erzählungen, Inszenierungen, Beschwörungen und Verkörperungen nicht zur Darstellung zu bringen und nicht heraufzubeschwören sind. Wenn die Theologie diesen Unterschied nicht mehr macht, macht sie keinen Unterschied mehr und wird über kurz oder lang nur noch Indifferenz erzeugen.
Nietzsches toller Mensch fragt am Ende seiner manisch-depressiven antitheologischen Performance: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ Ja, was sind sie noch? Was sind Kirche und Theologie noch, wenn sie Gott zu Tode übersetzt haben? Sie sind Schall und Rauch, der spurlos verschwinden wird wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Eines allerdings ist gewiss: Mit dem Gesicht Gottes wird auch das Gesicht des Menschen und das Gesicht der Menschlichkeit von der Bildfläche der Erde verschwinden.
Der glaubenstolle Mensch
Damit dies nicht geschieht, braucht es glaubenstolle oder vielmehr gottestolle Menschen, die am hellen Vormittage Laternen anzünden, auf den Markt, auf Bahnsteige, auf Autobahnraststätten, in Fertigungshallen und Plenarsäle und vielleicht sogar in Hochschulen und Kirchen laufen und unaufhörlich rufen: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“
Und nicht nur das. Es braucht auch Menschen, die auf Antworten warten. Auf die Antworten der Menschen. Und auf die Antwort Gottes. Denn wenn es etwas gibt, das die Kinder des Himmels von den Kindern der Welt unterscheidet und auch am Ende aller menschlichen Möglichkeiten nicht ziellos und hoffnungslos werden lässt, dann die Hoffnung, an die Karl Barth in seinem Vortrag „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“ erinnert hat. Die Hoffnung, „dass das Ziel unsrer Wege das ist, dass Gott selber rede“. Diese Hoffnung ist die Daseinsberechtigung jeder Theologie und jeder Kirche, die ihren Namen verdient.
Ralf Frisch ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.
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