Forum Kirche und Theologie:
Aktuelles

Ingolf U. Dalferth

Prof. em. für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie, Universität Zürich
Zur Theologievergessenheit der Theologie

Ich bin gebeten worden, aus akademischer Perspektive ein paar Worte zur „Theologiever­gessenheit in Theologie, Kirche und Gesellschaft“ zu sagen. Ich beschränke mich auf den ersten Punkt. Soll die Re­de von der „Theologiever­ges­senheit in der Theologie“ kein bloßer Selbst­wider­spruch sein, dürfte mit „Theologie“ die akademische Theologie gemeint sein, und mit „Theologie­vergessenheit“ die Befürchtung, dass das, was dort erforscht und gelehrt wird, nicht das ist, was dort erforscht und gelehrt werden sollte - jedenfalls dann nicht, wenn man „Theo­logie“ so versteht wie im Programmtext des Forums: als Reflexion der „theo­logi­schen Grund­lagen des christlichen Glaubenslebens“ – wohlge­merkt: der theo­logi­schen Grund­­lagen, nicht nur der rechtlichen, ökono­mi­schen, sozia­len, psychologi­schen usf. Grundlagen, Aspekte oder Dimensionen des christ­lichen Glaubens­lebens, die es ja auch gibt.


Theologie im genannten Sinn muss mehr sein wollen als „Ethik, Kultur­theorie, Christen­tumsge­schich­te oder Religions­philosophie“, jedenfalls sofern sie christliche Theologie sein will und einen konstruk­tiven Beitrag zum Verstehen und zur Gestaltung christ­lichen Lebens in der Ge­genwart leisten will. Das gelingt nicht, wenn akade­mi­sche Theologie ohne Bezug auf die Auf­gaben und Herausfor­de­rungen der Kirche und ihrer Evangeliumsbotschaft auskommen will, im Christentum nur einen Fall von Religion unter anderen sieht und ,Gott‘ für eine fromme Formel hält, die in der wissenschaftlichen Theologie kei­ne Rol­le spielen könne, weil sie keine metho­disch ausweis­bare Erklärungsleistung erbringe. Kein Wunder, dass die kirchliche Be­mühung um die Gestaltung des christlichen Gemeinschafts­lebens das dafür Nützli­che und Hilfreiche dann überall sucht, nur nicht in der akade­mischen Theologie.


Sicher sind die Formeln „Kirche ohne Theologiebezug“ und „Theologie ohne Kirchenbezug“ einseitige Über­ver­einfachungen. Die Realität ist differenzierter zu beschreiben. Aber sie markieren Gefahren, die es zu meiden gilt. Und sie drängen sich auf, wenn Synoden oder Kirchenleitungen meinen, auf theologische Beratungsgremien verzichten zu können, oder sie, wie die EKD, durch ein „Kammer­netz­werk“ ersetzt, das vor allem „Stellungnahmen zu aktuellen gesellschaftspolitischen oder ethischen Fra­gen“ erarbeiten soll, wenn es denn einberufen wird. Oder wenn sich Fakultäten wie Zürich ohne äußere Nötigung in theologisch-reli­gionswis­sen­schaft­liche Einrichtungen um­benennen und ein ,rein wissenschaftliches‘ Theologiever­ständ­nis propagieren, das der religions­wissenschaftlichen Aussenbeschreibung von Religionstradi­tio­nen und -gemein­schaften eine theologische Innensicht an die Seite stellen will, ohne angeben zu können, was diese Innensicht denn sein soll – und deshalb faktisch nichts anderes ist, als die jeweilige Christen­tums­­sicht der Fakultätsmitglieder.


An solchen Beispielen zeigt sich, wohin die Reise geht. Weil das Christentum als Lebensorientierung der Menschen in unserer Gesellschaft an Boden verliert und das poli­tische Gewicht der Christen schrumpft, weil die Kirchen als morali­sche In­stan­zen (in vorhersehbarer Weise) versagt haben und als diako­nisch-soziale Einrichtungen und als Bildungs-Institutionen nicht mehr so ge­braucht werden wie einst, will sich mancher in der akademi­schen Theologie auf die Seite der Wissen­schaft retten – ohne zu beachten, dass es sehr schnell keine staatlich subven­tio­nierte Theo­logie in Ge­stalt der disziplinär ausdif­fe­ren­zier­ten theologi­schen Fakultäten bzw. Fachbereiche mehr geben wird, wenn man diesen Weg ein­schlägt. Niemand braucht so viele Lehrstühle für so wenige Studierende und so viel Per­sonal für Fragestellungen, die nur wenige interessieren. Die Flucht in Forschungskooperationen mit kulturwissenschaft­lichen Nachbardis­ziplinen ist kein Rettungsweg. Ohne Ausbildungsaufgaben für ein gesell­schaft­lich für wichtig erachtetes Berufs- und Tätig­keitsfeld (Kirche, Schule) sind die theologi­schen Einrich­tungen überausgestattet – es gibt zu viele und sie erhalten zu viel. Eine nicht kirchenbezo­gene Theologie ist ein Orchideenfach. Jede ver­antwortliche Uni­ver­sitätsleitung wird hier Einsparpoten­tial sehen und die verfügbaren Ressourcen anders ein­zu­setzen versuchen.


Diese Situation wird sich in nächster Zeit rechtlich und finanziell verschärfen, wenn in Deutsch­land die finanzielle Entflechtung von Staat und Kirche Gestalt annimmt und damit auch die Konkordats­regelungen für die katholischen und evangelischen Theologischen Fakul­täten zur Disposition stehen werden. Das steht keineswegs nur auf staatlicher Seite auf der Agenda, sondern auch in der Theologie selbst (vgl. Thomas Schüller, „Unheilige Allianz.“ Warum sich Staat und Kirche trennen müssen, Hanser Verlag München 2023).


Die gesellschaftliche Rolle der Kirchen hat sich grundlegend geändert und daran wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern. Nichts wird so bleiben, wie es ist. Darauf gilt es sich einzu­stellen. Das nicht zu tun, ist nicht nur kurzsichtig, sondern verant­wortungslos. Es genügt nicht, sich selbst in den Ruhestand zu retten und die Aufräumarbeiten der näch­sten Ge­ne­ration zu überlassen. Nicht die Aus­rich­tung auf die Kirche ist das, was der aka­de­mischen Theolo­gie schadet, sondern die Irr­mei­nung, es könne sie ohne diese Ausrich­tung an den wissen­schaft­lichen Einrichtun­gen un­serer Gesellschaft noch lange geben. Der gesellschaftliche Relevanzverlust der Kirchen wird sich auf die akademische Theologie auswirken, und es wird ihr nichts helfen, durch Umgestaltung zu einer a-kirchlichen Kulturwissenschaft der Innenbetrachtung von Religion(en) ihren Ort an den Universitäten retten zu wollen.


Neben die institutionell-gesellschaftlichen Probleme der akademischen Theologie treten die inhaltlichen. Einen Konsens über das, was die Theologie zu erforschen und zu lehren hat, gibt es nicht und hat es auch nie gegeben. Geht es um Gottes­ge­lehrtheit, Schrift­kunde, die Ausbil­dung kirchlicher Leitungskompetenz, Religions­for­schung, Spiri­tualitäts­manage­ment, Gemein­sinn­ethik, Weltethos? All das wurde und wird vertreten, aber heute gibt es kaum noch einen Streit darüber – und das ist bedenklich. Man bezieht Position, aber man diskutiert nicht mehr die Positionen. Es ist ja schon beinahe komisch, wenn in Beken­ner­­ma­nier im­mer wieder der 19. Jahrhundert-Gegensatz zwischen Positiven und Libera­len be­schwo­ren oder Schleier­macher gegen Barth und umgekehrt ausgespielt wird. Wir leben im 21. Jahrhundert. Aber wir haben uns so an die Toleranzpostu­late unserer säkular-multireligiösen Kultur ge­wöhnt, dass es zwar leicht ist, die Übel zu benennen, die der Christenheit anzulasten sind, es aber für anstö­ßig gehalten wird, öf­fent­lich heraus­zu­streichen, was einer Gesell­schaft ohne das Christen­tum fehlt, was das Kulturpro­jekt der Humanisierung des Menschen dem Evangelium und den Kirchen ver­dankt und wozu christliche Theo­logie nötig ist, was sie auszeichnet, was sie leistet und was nicht.


Es war schon immer leichter, das Negative zu beschreiben als das Positive zu benennen. Aber in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten stehen moralische Wertungen meist höher im Kurs als die Kenntnis dessen, was bewertet wird. Doch Werturteile, die nicht auf Sachurteile gründen, sind wenig mehr als Meinungsäußerungen, und Zustimmung zu ihnen zu fordern, fördert nicht die eigene Urteilskraft. Es genügt nicht zu wissen, wie etwas zu beurteilen ist, man muss auch wissen, was man beurteilt. Als ich vor einigen Semestern in Kalifornien einen Doktorandenkurs zu Luthers Theologie durchführte, fragte ich zu Beginn, wer schon etwas von Luther gelesen hatte. Niemand konnte eine Schrift benennen. Viele hatten noch nie von Luther gehört, und die wenigen, die einen Kurs in historischer Theologie absolviert hatten, hatten genau zwei Dinge gelernt: dass Luther gegen die Bauern war und gegen die Juden. Sie wussten, wie das zu bewerten ist, aber sie hatten so gut wie keine Ahnung von dem, was sie so bewerteten. Die erwartete Zustimmung zu den nahegelegten Werturteilen war an die Stelle der eigenen Erarbei­tung gründlicher Sachurteile getreten. Wo die Über­nah­me von Werthaltungen aber für wichtiger gehalten wird als die Erarbeitung eigener Kenntnisse, werden die humanities ideologisiert. Zwar ist es richtig, dass Bildungsprozesse nicht nur Kenntnisse vermitteln, son­dern dazu befä­higen sollten, sich diese durch eigene Urteile anzu­eignen. Die eigene Urteilskraft wird aber nicht befördert, wenn Studierenden Wertungen beigebracht werden und nicht die Sachurteile, auf denen sie basieren. Sie müssen lernen, selbst zu urteilen. Und das tun sie nicht, wenn sie ohne Sachkenntnis den Wertungen anderer zustimmen.


Doch das ist nicht die einzige Misere im gegenwärtigen Theologiestudium. Die andere ist, dass es keinen Kanon gibt, was eigentlich dazugehört und was nicht. In den USA ist das überall mit Händen zu greifen: Wer Theologie studiert, studiert das, was an seinem Ort gerade als Theo­logie gelehrt wird. In­di­vidueller geht es kaum. Am Ende ha­ben zwar alle einen ähn­lich klingen­den akademi­schen Grad. Aber was sie studiert haben, lässt sich kaum vergleichen und stellt keine Basis dar für gemein­sames Fragen, Denken oder Handeln. Wo aber theologisch jeder und jede nur die je eige­nen Ansichten vertritt und es keine gemein­same Text-, Problem- und Dis­kussions­basis mehr gibt, über­neh­men zeitge­nös­sische Ideolo­gien die Leitung, weil sie bieten, was das Theologiestudium nicht mehr bietet: einen gemein­samen Orientierungs­hori­zont, in dem man sich über existenzi­elle Fragen verständigen und über kontroverse Antworten streiten kann. Das Resultat solcher Ausbildungsprozesse sind gemeinsame moralische Werthaltungen, aber keine gemeinsamen theologischen Kenntnisse mehr. Und was das für die kirchliche Arbeit bedeutet – das primäre Berufs- und Tätigkeitsfeld vieler, die Theologie studiert haben – ist in Gemeinden und Kirchen überall mit Händen zu greifen.


Was also wären Ausblicke? Drei Hinweise müssen genügen.

Zum einen scheint es an der Zeit und auch wissenschaftlich und ökumenisch sinnvoll, verschiedene christliche Theologien nach dem Frankfurter Modell als Studiengänge in einer Fakultät zusammen­zufassen – nicht als Ver­mi­schungsplattform, sondern als gegenseitige Heraus­for­derung zur kritischen Auseinan­der­setzung. Christ­liche Theologie sollte ein eigenstän­diges Studienfeld werden – mit konfes­sionellen und praktischen Schwerpunkten und Studienpro­grammen, einschließlich evange­li­ka­ler und pentekostaler Entwick­lun­gen, aber nicht ver­mischt mit anderen religiösen oder welt­an­schau­lichen Traditionen. Das Christen­tum ist keine re­ligiöse Grup­pen­ideologie, sondern zielt auf deren Über­­win­dung, indem es Menschen für Gottes Ge­genwart sensi­bilisieret, der überall am Werk ist und alles zu seiner Schöpfung macht. Und christliche Theologie sollte die geleb­te christliche Vielfalt im Denken nicht einfach wiederholen, son­dern nach dem fragen, was diese zur Vielfalt gelebten Christen­tums macht. So gewiss konfessionelle Eigentümlichkeiten in den Ausbildungsprozessen der Kirchen auch künftig ihre Rolle spielen werden, so wenig muss das bedeuten, dass dies akademisch zu institutionellen Trennungen (also verschiedenen Theologischen Fakultäten) führen muss. Auch die Abgrenzung aka­demischer Theologie von evange­li­ka­len, charismatischen und pentekosta­len Entwick­lungen ist obsolet und über­holt. Es sind alles Varianten christlicher Theologie, die in ihrer Unterschiedlichkeit im Studienfeld christlicher Theologie ihren Ort haben können.


Alle Formen christlicher Theologie – das ist das Zweite – haben nicht nur exegetische, herme­neutische, historische und praktische, sondern norma­tive Aufgaben. Christlicher Theologie geht es nicht nur um das, was war und ist, sondern um das, was sein kann und sein soll, nicht nur um das Verstehen der historischen und empirischen Christenheit, son­dern um das Christen­tum, das im­mer im Werden, aber niemals einfach da ist. Ihr Thema ist nicht das empirische Christsein, sondern das existenzielle Christwerden – innerhalb und außerhalb der Christenheit. Wer meint, die Christenheit läge in ihren letzten Zügen, fällt seinem europäischen Tunnelblick zum Opfer. Das Christentum lebt und die Christenheit verändert sich ständig weiter – nicht immer so, wie es einem gefällt, aber gerade das macht deutlich, warum es theologischer Kritik und Reflexion und Begleitung bedarf. Ohne dass Menschen Christen werden, gibt es keine Christen­heit. Christ wird man aber nicht dadurch, dass man sich zur Christenheit hält, also einer Kirche beitritt und Mitgliedsbeiträge zahlt, sondern dass man vom Christentum erfasst wird, also Glied am Leib Christi wird.


Dafür steht die Taufe. Das Christwerden im theologischen Sinn (Taufe) und das Christwerden im gesellschaftlichen Sinn (Kirchenmitgliedschaft) sind daher wohl zu unter­schei­den (und deshalb auch die Taufe als kirchliches Ritual und als göttliches Verheißungs­handeln). Während der Tauftag eines jeden Kirchenmitglieds aber jeden Tag weiter in die Vergangenheit rückt, ist die Taufe jeden Tag Gegenwart, weil sie das freie und unverdiente Einbezogenwerden von Menschen in die Gegenwart von Gottes Liebe markiert. Das erste signalisiert das gesellschaftliche Christein coram mundo (das immer Resultat menschlichen Tuns ist: „Ich will Christ werden“), das zweite das geistliche Christwer­den coram deo (das immer und ausschließlich ein Wirken Gottes am Menschen ist: „Ich will Dein Gott sein und mache Dich zu meinem Kind und Erben“). Beides gehört zusam­men, ist aber stets zu unterscheiden, weil es das erste nicht gibt ohne menschliche Akti­vität, das zweite dagegen nur gibt ohne jede menschliche Aktivität. Es ist die Schöpfung des neuen Men­schen, die nicht das Geschöpf bewirkt, sondern in der allein der Schöpfer wirkt und dem Geschöpf alles zukommt.


Weil es um dieses Werden geht, ist christliche Theologie nie nur die Entfaltung des Systems der Lebens­re­geln und Lebensformen einer bestimmten religiösen Grup­pe, sondern die Analyse des Neuwerdens gottblinder Menschen und der Neuaus­rich­tung menschlichen Lebens an dem, was für alles Existierende gilt: dass wir Geschöpfe sind, die von der Zuwen­dung des Schöp­fers leben. Weil sie auf dieses Schöpfungshandeln Gottes gerichtet ist, der stets Neues möglich macht, indem er Leben aus Tod, Gutes aus Üblem, Sein aus Nichtsein schafft, ist christliche Theologie prinzipiell uni­versal ausgerichtet, also nicht am Gegensatz zwischen Christen und Nichtchristen orientiert (also nur eine für die Kirchen relevante Reflexionsform des christlichen Glaubenslebens), sondern am Unter­schied zwischen Schöpfer und Ge­schöpf (also eine für alle Menschen relevante Reflexionsform der theologischen Grundlagen des christlichen Glaubenslebens). Was sie durchdenkt, betrifft alle, und wenn es nicht alle betrifft, betrifft es niemand.


Deshalb – letzter Punkt – gehört die konsequente Ausrichtung auf Gott, wie er sich in und durch Christus als Liebe erschlossen hat und im Wirken des Geistes immer wieder er­schließt, zum Kern christlicher Theologie. Ohne Schöpfer keine Schöpfung, und ohne Über­windung der Gottesblindheit kein Leben als Geschöpf unter Geschöpfen in der Ausrich­tung am Schöpfer. Gott ist keine Kurzformel für kirchliche Moral­ap­pelle, sondern das Lebenszentrum der Schöpfung, der, dem sich alles andere verdankt. Entsprechend steht das Neuwerden durch Gottes Zuwendung und die Neu­ausrich­tung der Menschen an dieser stets voraus­ge­henden Zuwen­dung Gottes im Zentrum des Christentums – alles andere dagegen steht an zweiter Stelle.


Dieses Gefälle gilt auch für die christliche Theologie. Es gibt keine Theo­logie ohne Ethik, keinen Glau­ben ohne Moral, kein Hoffen ohne Gu­tes­tun. Aber Ethik ist kein Ersatz für Theo­logie, Moral kein Ersatz für Glauben, Gutes­tun kein Ersatz für das Hoffen auf Gott. Nie dürfen die ethischen Folgen des Glaubens zur Prämisse des Glaubens oder zum primären Inhalt des theologischen Denkens werden. Nur durch ihre Ausrich­tung an der Gottesthematik steht die Theologie auf eigenem Boden. Nur dadurch werden die ver­schiedenen theologischen Disziplinen zu ver­schiede­nen theologi­schen Fragehin­sichten. Und nur so bleibt Theologie auch gegenüber den Ansprü­chen und Er­wartungen der Kir­chen eine kritisch-eigenständige Unterneh­mung.


Denn auch diese Differenz ist wichtig – gerade für die akademische Theologie. Sie ist kein Organ der Kirchen und nicht von deren Anweisungen und Erwartungen abhängig. Sie macht die Kirchen aber auch nicht überflüssig, weil sie selbst alle Antwor­ten hätte. Im Gegenteil. Sie irrt sich ständig, und sie muss sich immer wieder korrigieren. Ihre theologischen Konstrukte sind keine Antworten auf die existenziellen Fragen der Menschen, sondern im geglückten Fall allenfalls Hinweise darauf. Für sich betrachtet, ist christ­liche Theologie keine Antwort-, son­dern eine Fragedisziplin. Sie widersetzt sich jeder Einschränkung oder Neutralisierung von Fraglichkeit. Sie stellt Fragen, auch und gerade an die Kirche, und sie stellt alles in Frage, auch ihr Infragestellen selbst.


Die entscheidenden Antworten des Christentums sind deshalb nicht von der Theologie, sondern vom Evangelium, von der Kirche, vom Glauben zu erwarten. Dort gehen die Ant­worten dem Fragen voraus. In der Theologie dagegen werfen alle Antworten neue Fragen auf. Gut ist Theologie daher nicht, wenn sie auf alles eine Antwort hat, sondern wenn sie frag­würdig bleibt. Will sie mehr, übernimmt sie sich. Will sie weniger, kann man auf sie ver­zichten. Aber sie wird langweilig oder gefährlich, wenn sie ihre eigene Frag­würdig­keit gar nicht mehr bemerkt. Sie meint dann Antworten zu haben. Aber sie hat nur Fragen. Denn Antworten gibt es bei existenziellen Fragen nur im Leben – im je eigenen Leben. Und sie werden nicht von der Theologie gegeben, sondern bei Gott gefunden.