Forum Kirche und Theologie:
Predigten
Dr. Gottfried Claß
Predigt zu Johannes 14,15–19.23b–27 –
Pfingstsonntag, 8. Juni 2025
Wie kann jemand da sein, wenn er weg ist? Das ist die Frage, um die es an Pfingsten geht. Seit seinem Tod am Kreuz ist Jesus nicht mehr als Leib, als greifbarer Körper unter uns. Er geht nicht durch die Straßen unserer Dörfer und Städte. Und dennoch ist er bei uns. Das ist die kühne Behauptung unseres christlichen Glaubens. Nein, Jesus Christus ist nicht einfach nur eine Gestalt vergangener Zeiten. Vielmehr gehört er zu unserer erlebbaren Wirklichkeit. Er ist weg. Und dennoch ist er da. Wie soll das gehen? Diese Frage hat glaubende Menschen zu allen Zeiten beschäftigt. Die einen in tiefe Zweifel gestürzt, andere ins Nachdenken und zu neuen Antworten geführt. - Hören wir unseren Predigttext. Er stammt aus den sog. Abschiedsreden Jesu. Sein Tod steht unmittelbar bevor. Noch einmal ist Jesus beisammen mit seinen Freunden. Er schaut voraus auf seinen Abschied. Er stimmt seine Freunde auf die Trennung ein. Das sind seine Abschiedsworte:
15 Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. 16 Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: 17 den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. 18 Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch. 19 Es ist noch eine kleine Zeit, dann sieht die Welt mich nicht mehr. Ihr aber seht mich, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben. …
23bWer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. 24 Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. 25 Das habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. 26 Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. 27 Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.
Wie kann Jesus da sein, wenn er weggeht, wenn er weg ist? Auffallend ist: Obwohl Jesus von seinem Tod spricht, spricht er von seinem Leben: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Er spricht von einem Leben, das durch den Tod nicht einfach beendet wird. Von einem Leben, das durch den Tod hindurch zu einem ewigen Leben wird. Wir suchen also nicht nach einem Toten oder einem Gespenst. Wir suchen nach jemand, der auf ganz neue Weise lebendig ist.
Machen wir uns auf die Spurensuche. Wie kann einer da sein, wenn er weg ist?
Erste Spur: im Vermissen.
Liebende fürchten die Trennung. Sie wollen, dass es weitergeht. Diese Erfahrung kennen wir alle – auf je eigene Weise. Darum sind die Freunde Jesu auch zutiefst erschrocken, als Jesus seinen Abschied ankündigt. Wie sollen sie ohne ihn weiterleben? Unvorstellbar! Ihr Trennungsschmerz – was ist er anderes als Zeichen einer tiefen Liebe, die sie erleben durften, einer tiefen Liebe zwischen Jesus und ihnen? „Wenn ihr mich liebt…“ so beginnt unser Text. Ja, sie lieben ihn fraglos. Und auch Jesus schmerzt die Trennung. Sie geht ihm nahe. Das spürt man den Abschiedsreden ab. Seine Schwestern und Brüder – sie sollen nicht verwaist zurückbleiben. Darum hinterlässt er ihnen etwas ganz Kostbares: den Heiligen Geist. Der wird ihnen beistehen. Der wird sie trösten und aufrichten, wenn es ihnen ganz schwer ums Herz ist.
Wir leben in einer Welt, die Gott überhaupt nicht vermisst. Der es vollkommen gleichgültig ist, ob Gott existiert oder nicht. Zurzeit sorgt das Buch eines niederländischen Theologen, Jan Loffeld, für Furore. Sein Titel: „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt.“ Das Buch geht diesem Phänomen nach, dass viele Menschen Gott vergessen haben, aber diesen Verlust gar nicht merken. Denn Gott hat keinerlei Bedeutung für ihr Leben. -
Auf diesem Hintergrund fällt ein neues Licht darauf, dass Gott uns fehlt. Dass wir ihn vermissen, uns nach ihm sehnen. Liebe Gemeinde, das ist ein Wunder! Wir vermissen ja Gott so schmerzhaft, weil er uns so viel wert ist. Weil eine gottlose Welt so schwer auszuhalten ist. Weil wir uns danach sehnen, dass Gott sich in all den Verrücktheiten der gegenwärtigen Weltlage deutlicher zeigt. In dieser Sehnsucht nach Gott wirkt bereits der Geist Gottes. In unserem Vermissen ist schon etwas von Gottes Gegenwart zu erleben.
„Gott zu vermissen, ist auch eine Art, mit Gott zu leben“ (Christina Brudereck), so hat eine Theologin unserer Tage sehr präzise formuliert.
Gehen wir auf unserer Spurensuche weiter. Wie kann einer da sein, wenn er weg ist?
Zweite Spur: im Erinnern.
Erinnerungen überbrücken die Distanz zu dem, den man so schmerzlich vermisst. Darum steckt in ihnen eine Trostkraft. Trauernde erleben, wie gut es tut, Geschichten über den/die Verstorbene zu teilen: „Weißt du noch, wie sie/wie er immer…“ Und oft erleben wir, wie sich beim Erinnern mehr und mehr das Wesentliche herausschält. Es wird klarer, was von einem Leben bleibt, was der, der ging, uns bedeutet hat. Das Bild der Mutter, des Vaters, das Bild der Patentante, der ersten Lehrerin, des Pfarrers, der einen einst konfirmiert hat, des Chefs in der Firma. Es ist erstaunlich: Diese Bilder verschwimmen nicht mit der Zeit. Im Gegenteil: Sie gewinnen an Deutlichkeit dazu.
Und damit zurück zur Abschiedsrede Jesu: „Aber der Beistand, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (V. 26). So ist es geschehen. Im engen und weiteren Freundeskreis Jesu wurden die Erinnerungen an ihn geteilt. Die Erinnerungen an die Tischgemeinschaften mit ihm. An markante Worte von ihm. An Gleichnisse, die er erzählte. An die Wunder, die er tat und von denen das Signal ausging: Gottes neue Welt ist im Kommen.
Das Bild von Jesus wurde immer reicher und immer klarer. Gottes Geist war hier am Werk. Er öffnete die Augen! Er öffnete die Herzen! So dass sie erkannten: Jesus ist tatsächlich der Christus. Er ist es, durch den Gott diese Welt retten und erlösen will.
In unseren vier Evangelien spiegelt sich das sehr eindrücklich. Sie sind ja kein langweiliger Terminkalender, der buchhalterisch die Termine, Sitzungen und Taten Jesu festhält. Es geht den Evangelien und ihren Verfassern vielmehr darum, tiefer zu verstehen, wer Jesus war, was sein Vermächtnis an uns ist. Sie wollen für ihre Gemeinden und für die nachkommenden Generationen deutlich machen, warum Jesus „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist.
Liebe Gemeinde, was für ein Schatz sind diese in der Bibel gesammelten Erinnerungen an Jesus – auch für uns. Sie haben unser Leben entscheidend mitgeprägt. Sie sind auch heute kein verstaubter Ladenhüter. Sondern überraschend aktuell. Sie helfen uns, zwischen Letztem und Vorletztem zu unterscheiden. Die Putins und Trumps dieser Welt, die Bereitschaft so vieler Menschen, sich verführen zu lassen – all das gehört zum Vorletzten, all das wird vergehen. Der Erste und Letzte ist Jesus Christus und das, wofür er steht. Er trägt die letzte Verantwortung für diese Welt und für unsere Kirche. Und ihm gehört die Zukunft. Wie entlastend! Wie tröstlich!
Dritte Spur: im Kreislauf der Liebe
23bWer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Schon zu Lebzeiten setzt Jesus den Kreislauf der Liebe in Gang. Der Aussätzige, die gekrümmte Frau, der verhasste Zöllner – keine und keiner von ihnen ist Jesus gleichgültig. Er sieht in ihnen Schwestern und Brüder. Er lässt sie spüren, sie erfahren: Du gehörst trotz allem Gott.
Liebe Gemeinde, das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern – Gleichgültigkeit. Sie bringt den Kreislauf der Liebe ins Stocken. Wo die Gleichgültigkeit herrscht, da leben Menschen aneinander vorbei, da lässt einer den anderen im Stich. Jesus kommt, um die Menschen von ihrer Gleichgültigkeit zu heilen. Er will sie für die Liebe gewinnen. Und tatsächlich, es geschieht: Jesu Liebe fließt weiter, geht auf Menschen über. Die Liebe fließt im Kreis.
Und nun sagt Jesus in seiner Abschiedsrede: „Auch wenn ich weg bin – der Kreislauf der Liebe soll nicht aufhören. Dafür sorgt der Heilige Geist. Er erinnert euch an meine Liebe und Barmherzigkeit. Er hilft euch, im Gegner den Bruder zu sehen. Er lässt eurer Gleichgültigkeit nicht das letzte Wort.“ Liebe Gemeinde, wir sind hier in (…) als christliche Gemeinde nicht deswegen zusammen, weil wir uns alle so sympathisch fänden. Nein, wir sind hier Gemeinde, weil Jesus diesen Kreislauf der Liebe in Gang gesetzt hat und weil Gottes Geist diesen Kreislauf am Fließen hält oder wieder neu in Gang bringt. Wo wir uns ausklinken, da gerät die Liebe ins Stocken. Wo wir uns von Jesu Geist wieder neu aneinander weisen lassen, da fließt sie wieder. Und Jesus ist in diesem Kreislauf gegenwärtig. Er ist im Fließen der Liebe präsent.
Vierte Spur: im Friedensgruß
Es war auch für viele evangelische Christen ein Gänsehautmoment: Als der frisch gewählte Papst Leo XIV. auf den Balkon des Petersplatzes trat und seine ersten Worte an die jubelnden Gläubigen richtete:
„La pace sia con tutti voi“ – Der Friede sei mit euch allen. Hier war es so – und immer wieder erleben wir es so: In diesen Worten, in diesem Gruß ist er tatsächlich gegenwärtig, der Friede, der höher ist als alle Vernunft. Der Friede, der von Gott kommt und den sich die Welt nicht selbst geben kann. Und zugleich war in diesem Gänsehautmoment auch wieder diese Sehnsucht gegenwärtig, dieses eindringliche Hoffen: Ach Gott, schenk doch endlich Frieden, besonders den Menschen, den Ländern, die schon viel zu lange unter Krieg und Zerstörung leiden!
Der Schlussvers unseres Predigttextes ist zugleich sein Höhepunkt: Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht. Friede – das ist es, wofür Jesus steht, das ist es, was er dieser Welt schenken will. Manchmal erleben wir es schon jetzt – mitten in bedrängenden Situationen. So wie es Thomas Gottschalk erfahren hat. Damals nach der Katastrophe, die in seiner Sendung „Wetten dass…“ passiert war. Sie erinnern sich: Samuel Koch war Wettkandidat. Er wollte nacheinander über fünf Autos, die ihm entgegenfuhren, springen - mit Sprungstiefeln im Vorwärtssalto. Beim vierten Wagen, gesteuert ausgerechnet von seinem Vater, stürzte er mit schlimmen Folgen. Seither ist Samuel Koch querschnittgelähmt. Gottschalk berichtet: „Schon am Tag nach dem Unfall habe ich in der Frühe mit der Familie (Koch) im Hotelzimmer ein Vaterunser gebetet. Das hat uns eine gemeinsame Ebene gegeben, ihnen in ihrer Verzweiflung, mir in meiner Ratlosigkeit. Da war plötzlich eine Nähe da, auch eine Form von Geborgenheit und Frieden.“
Jeder Friedensgruß stärkt unsere Hoffnung. Denn in jedem Friedensgruß erneuert Jesus Christus sein Versprechen: „Ja, es geht auf Gottes Reich des Friedens zu. Mein Sieg über den Tod soll euch ein Zeichen sein. Am Ende wird wirklich Friede sein, Friede, der alles umfasst. Die Wunden, die euch geschlagen wurden und die ihr anderen geschlagen habt, sie werden geheilt. Ich werde diese alte geschundene Schöpfung erneuern und diese zerbrochene Welt heilen.“
Zum Schluss: Wie kann Jesus da sein, wenn er weg ist? Das war unsere Ausgangsfrage. Bei unserer Spurensuche haben wir entdeckt: Jesus ist da im Vermissen - im Erinnern - im Kreislauf der Liebe - im Friedensgruß. Das haben wir Gottes heiligem Geist zu verdanken. Er hält unsere Beziehung zu Jesus Christus durch alle Wechselfälle des Lebens „am Laufen“. Ihn wollen wir am heutigen Pfingstfest feiern, ihm danken. Wir haben allen Grund dazu. Amen.
Dr. Gottfried Claß, Friedrichshafen