Forum Kirche und Theologie:
Predigten

Pfarrer Dr. Gottfried Claß

Predigt zu Apk 21,1–5

am 24. November 2024 (Toten-/ Ewigkeitssonntag)


Predigttext


Predigt

Liebe Gemeinde, vor einiger Zeit habe ich ein Buch gelesen, das mich sehr berührt hat. Es heißt: Kein Abend mehr zu zweit (von Uta Schlegel-Holzmann). Darin beschreibt eine Frau ihren Weg der Trauer. Und so beginnt sie: „Es ist Sommer, der Kirschbaum hat wieder reichlich Früchte … Der Baum hat einfach so getan, als ob nichts geschehen wäre, und ich war zutiefst empört, dass er überhaupt wieder blühte. Wie konnte er denn deinen Tod ignorieren, mein Mann? Ich meinte, alles müsse innehalten, die Sonne dürfe nicht mehr aufgehen, die Pflanzen müssten verdorren - so wie ich. Und dann geht die Sonne wieder auf, Bäume grünen, Kirschen reifen, Laub fällt … Natur zeigt keine Trauer. Sie zeigt uns nur, was ein Menschenleben im ewigen Kreislauf ist: Werden. Wachsen. Vergehen. Eines Morgens saßen wir noch heiter beisammen. Frühstück, Ausblick auf den Tag, Pläne fürs Wochenende. Es war ja Freitag. Alles war wie sonst. ‚Also dann, bis später – und mach’s gut!‘ Und dann gab es keinen Abend mehr zu zweit. Du machtest dich auf zur letzten, der endgültigen Wanderschaft. Der Tod nahm dich mit. Und für mich brach eine Welt zusammen…“


Hier sind Gedanken und Gefühle ausgedrückt, die auch manche von Ihnen bewegen. „Du machtest dich auf zur letzten, der endgültigen Wanderschaft…“ Dass es kein Zurück mehr gibt - das ist so schwer zu ertragen. Dass eine gemeinsame Geschichte mit dem Partner, dem Vater, der Mutter, der Freundin – einfach nicht mehr weitergehen soll. Immer wieder stoßen wir darauf: Jetzt ist sein Platz, jetzt ist ihr Platz leer. Jedes Mal ein Stich ins Herz. Und dann kommen die Geburtstage, Weihnachten Silvester - wie Dornenbüsche können solche Tage für Trauernde am Weg stehen. Weil der Kontrast so hart ist: „Die anderen feiern und sind glücklich - aber für mich ist alles anders.“
 

Gibt es etwas, was hier helfen kann? Die Witwe erzählt von dem Besuch einer Freundin, wie tröstlich das war: „Es tut gut, so ein Halt. Ach, was hätte ich mir gewünscht, es wären nach deinem Tod viel mehr gekommen, um uns Halt zu geben!“ Es müssen gar nicht viel Worte sein. Aber dass jemand vorbeikommt und sich Zeit nimmt. Zuhören kann. Und auch das Schweigen und die Tränen aushält. Dass mir jemand ganz konkret im Alltag Arbeiten und Aufgaben abnimmt, die mir zu viel sind… Da spüre ich eine Nähe, die mir guttut.


Freilich, die Begleitung, die uns andere Menschen geben können, hat auch ihre Grenze. Es gibt Schritte des Abschiednehmens, die ich allein gehen muss. Es gibt Schmerzen, Fragen, die mir keiner abnehmen kann. Und so kommt auf dem Weg der Trauer auch der Punkt, wo ich mich fragen muss: Möchte ich mich öffnen für eine Hilfe, die weiter reicht als das, was meine Mitmenschen mir geben können? Möchte ich Gott mit einbeziehen in meinen Abschiedsweg? Vielleicht kann er mir Dinge zeigen, die ich sonst nicht sehen kann. Vielleicht kann er mir einen Trost und eine Hoffnung geben, die ich sonst nicht finden würde.


Da kommt unser Predigttext ins Spiel. Hier schiebt Gott den Vorhang ein wenig zur Seite, der unsere Welt von einer anderen, unsichtbaren Welt trennt. Und Gott lässt uns vorausschauen auf das Ziel, auf das wir zugehen. Natürlich weiß auch Johannes, dieser biblische Visionär, dass er nicht mit wenigen Worten beschreiben kann, was kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat. Aber sein kurzer Blick in das Unbeschreibliche sagt doch schon viel. Und seine Bilder wollen die satten Farben dieser Hoffnung in das Grau dieser Novembertage hineinmischen. Was gibt uns Johannes zu sehen?


„Und ich sah die Heilige Stadt, das neue Jerusalem von Gott aus dem Himmel herabgekommen, bereit wie eine geschmückte Braut für ihren Mann“. Johannes malt uns in seiner Vision die Ewigkeit als die Begegnung zweier Liebenden vor Augen, als die Hochzeit von Braut und Bräutigam. Ewigkeit – für viele klingt dieses Wort seltsam kalt und farblos. Aber hier wird es beseelt, fängt an, in uns etwas zum Klingen zu bringen. Ewigkeit – ein Fest der Liebe und unbändiger Lebensfreude. Es kommt zur Begegnung mit dem, der seinen Abdruck tief in mein Herz gedrückt hat. Die Sehnsucht des Herzens wird wirklich gestillt.


Und diese Aussicht kann uns helfen, wenn wir auf dem Friedhof am Grab stehen. Da muss ich nicht nur denken: „Hier ist unsere gemeinsame Geschichte begraben worden.“ -  Nein, ich darf mir auch sagen: „Gottes Geschichte mit ihr, mit ihm geht weiter. Der Verstorbene begegnet nun dem, durch den er die letzte Erfüllung seines Lebens findet. Einen Frieden, eine Freude, den ihm niemand mehr rauben kann. - Dann kann es trotzdem sein, dass mich im nächsten Moment der Abschiedsschmerz wieder überfällt: „Ach, wenn du doch noch hier bei mir wärst! Du fehlst mir so!“ Der Glaube deckt unseren Schmerz nicht einfach zu. Aber ich darf fest darauf hoffen: „Es geht ihm, es geht ihr bei Gott jetzt gut!“ – und davon kann ich mich trösten lassen. Diese Hoffnung kann eine starke Brücke sein, die hinüberführt in ein Leben, das auch ohne den Verstorbenen wert ist, gelebt und gestaltet zu werden.


Aber die Ewigkeit ist nicht allein in den Bildern beglückender Zweisamkeit zu beschreiben. Es ist die Stadt, die vom Himmel kommt. Wenn ich mit dem Fahrrad oder zu Fuß durch Friedrichshafen gehe, dann bewegt mich manchmal der Gedanke: Wie viele Schicksale drängen sich hier auf engstem Raum zusammen. Nicht wenige gehen ihres Wegs in Trauer und Einsamkeit. Doch Johannes schaut in seiner Vision: Das wird nicht so bleiben. Er sieht, wie die neue Stadt Gottes sich auf das Trauern und die Einsamkeit herabsenkt, um alle aufzunehmen, die sich nach Heimat und Dazugehören sehnen. Und stellen Sie sich das vor: Die Tore in Gottes neuer Stadt stehen immer offen! Denn niemand muss sich mehr schützen - vor verächtlichen Blicken, vor Worten wie Giftpfeilen, vor Gewalt. Alle können sich ohne Angst bewegen. Es gibt keine gefährlichen, dunklen Ecken mehr, wo Unheil lauert. Und der Seher Johannes beschreibt ihre Straßen und Häuser als erleuchtet und transparent. Offene Straßen und Plätze: da begegnest du Menschen, da gehörst du dazu. Da spielt Musik. Da ist Lebensfreude pur.


Und Einer wohnt in dieser Stadt, der durchdringt alle Straßen und Plätze, ist einfach da: Gott selbst. Kein Tempel und kein Königspalast – nein, die „Hütte Gottes“ ist nah bei den Menschen. Im griechischen Urtext steht hier sogar Zelt: Leben mit Gott – auf Tuchfühlung.
Die Trennwände zwischen Menschenwelt und Gottes unzugänglicher Heiligkeit sind aufgehoben. All die Rätsel unseres Lebens, wo wir mit dem Kopf und unseren Fragen immer wieder schmerzlich auflaufen wie an eine Wand – gelöst, erlöst. Gott wohnt im Zelt, auf Zuruf erreichbar. Der Schmerz um unsere Verstorbenen, die wir so vermissen - der Schmerz auch über eigene dunkle Seiten, Missverständnisse, Lebensfehler, die nicht mehr zu ändern sind: all das ist nun überwunden durch den, der da ist.


„Ob wir uns wohl später wiedersehen?“ So fragen Trauernde manchmal im Blick auf die Verstorbenen. Diese Hoffnung hat in unseren Bibelversen durchaus einen Anhaltspunkt. Es ist ja kein Zufall, dass die Bibel ausgerechnet im Bild von der „Stadt“ das Leben in Gottes neuer Welt beschreibt. Wir werden nicht voneinander erlöst, sondern zueinander. Darum dürfen wir auf ein Wiedersehen hoffen. Warum nicht! Wir dürfen nur nicht den Fehler machen und die Hoffnung auf unser privates Glück begrenzen. Karl Barth, der große Theologe des 20. Jahrhunderts, wurde auch einmal gefragt, ob wir in der Ewigkeit denn unsere Liebsten wiedersehen würden. Er antwortete lapidar und trefflich: Ja, aber die anderen auch. Damit macht er klar: Entscheidend ist, dass in Gottes neuer Welt alle Beziehungen geheilt werden.


Auch das, was noch an belastenden Erinnerungen zwischen mir und dem Verstorbenen steht, wird in der neuen Stadt Gottes geklärt und überwunden sein. Die Versäumnisse, die mir noch auf der Seele liegen. Die Konflikte, mit denen wir uns das Zusammenleben schwergemacht haben. Die Kränkungen, die wir einander zugefügt haben. All das darf ich jetzt schon in Gottes barmherzige Hand legen.


Wundert es Sie noch, dass im nächsten Bild Gott zur Mutter wird? Eine Mutter, die sich nicht zu gut ist, ihre Hände nasszumachen mit unseren Tränen. Und wenn ich mir das nicht so pauschal und allgemein vorstelle, sondern mir die vertrauten Gesichter hineinglaube: all die, die unserem Herzen nahe waren und die schon gegangen sind oder einmal gehen müssen. 
Wenn ich mir den Vater vorstelle und seinen Blick und die Großmutter und ihre Stimme und die verstorbene Tochter mit ihrer Lebendigkeit und den zu früh gegangenen Ehemann, das zu früh geborene Kind mit seinem ungelebten Leben – wenn ich sie mir vorstelle, jeder an seinem Platz, berührt und getröstet und verbunden, und neben ihnen allen der Platz, auf dem ich einmal sitzen werde – dann kann ich mir für einen Moment vorstellen, dass einmal alle Fragen verstummen, dass einmal wirklich Frieden herrscht.


Aber wir müssen zurück aus diesen Trost- und Hoffnungsbildern, zurück in unsere eigenen vier Wände, wo uns vielleicht heute Abend wieder die Einsamkeit und das Vermissen überfällt. Zurück gehen wir nachher – aber als Menschen, die vorwärtsgehen.


Ich hatte mich in den Bergen mal so richtig im Nebel verlaufen. Wusste einfach nicht mehr, wo`s weitergeht. Da riss der Nebel plötzlich auf und im Sonnenlicht sah ich den Weg und wusste: da geht`s hin. Noch viel mehr zieht mich das Bild von Gottes leuchtender Stadt. Zieht mich durch die Nebel meines Lebens. Da will ich hin: Wo Gott selbst die Tränen abwischen wird. Da will ich hin, wo am Ende meiner Wege und Irrwege tatsächlich alles gut wird. Amen.