Forum Kirche und Theologie:
Predigten

Prof. Dr. Ralf Frisch

Predigt zu Dtn 34,1–5 

Eröffnungsgottesdienst der Herbsttagung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zum Ewigkeitssonntag


Predigttext


Predigt

Liebe Schwestern und Brüder!


„Mit deinen eigenen Augen“, spricht Gott, „habe ich es dich sehen lassen, das Land der Verheißung. Aber dorthin gelangen wirst du nicht. Alles, was ich dir versprochen habe, wird sich erfüllen. Nichts, wofür du gelebt und gekämpft hast, war vergebens. Du hast gegen den Augenschein angeglaubt und in den Gegenwind der Ungewissheit und der Unkenrufe hinein gesät. Aber du wirst nichts davon ernten. Es gibt Hoffnung. Unendlich viel. Aber nicht für dich.“


Harte Worte.


Wir könnten versucht sein, Mitleid mit Mose zu haben, weil ihm die letzte Erfüllung seines Lebens versagt geblieben ist. Wir könnten über die Härte des göttlichen Herzens den Kopf schütteln. Den Fuß wenigstens hätte Gott seinen treuen Diener doch ins Gelobte Land setzen lassen können.


Aber der Herr der Geschichte hat es anders vorgesehen. Mose ist dazu bestimmt, ein Mann des Wegs und der Weisung, aber nicht des Ziels zu sein. Andere mögen andere Bestimmungen haben. Mose nicht.


Außerdem ist Mose eigentlich nicht zu bedauern, sondern zu beneiden. Am Ende seines Lebens lässt Gott ihn schauen, woran er geglaubt hat. Am Ende wird ihm und seinem Volk der große Gottesbeweis zuteil. Das Gelobte Land erscheint zum Greifen nah. Bald werden die Jahre in der Wüste der Vergangenheit angehören.


Wir dagegen, liebe Schwestern und Brüder, wissen nicht, wie viele Wüstenwinter noch vor uns liegen. Wir wissen nicht, wohin der Weg unserer Welt und wohin der Weg unserer Kirche führt. Und wir wissen auch nicht, ob wir nicht doch ins Nichts hinein hoffen. Eigentlich sind wir viel ärmer dran als Mose. Wir sehen manchmal so wenig von dem, was wir glauben, dass uns mit dem Schauen auch das Glauben vergeht. Es ist ein Kreuz. Ein Kreuz mit der Welt. Und ein Kreuz mit Gott.


Und oft ist die Versuchung groß. Die Versuchung, so zu leben, als würde uns nichts fehlen, wenn uns Gott fehlt. Die Versuchung, die Enttäuschung über Gottes Uneindeutigkeit und Spurlosigkeit nicht mehr spü­ren zu wollen. Die Versuchung, endlich spirituell erwachsen zu werden, die Kinderschuhe des Glau­­bens abzustreifen und sicherheitshalber und vernünftigerweise nichts mehr von Gott zu erwarten. Und ebenso groß ist vielleicht auch eine andere Versuchung. Die Versuchung, unser Herz an einleuchtendere, zeitgemäßere und vitalere Götter zu hängen. An uns selbst. An das Leben. An die Angst. Die Angst um das Leben. Und die Angst vor dem Leben.


Aber was machen wir, wenn man sie uns stellt, die große und ernste Frage? Die Frage, die wie geschaffen ist für einen Ewigkeitssonntag. Die Frage, auf die gerade Kirchenprofis bestens vorbereitet sein müssten und die doch immer unerwartet kommt und uns ein wenig peinlich berührt. Die Frage, woran wir glauben. Wir, die das Volk Gottes durch diese Zeit führen sollen. Wir, die auf unsere Weise ja eigentlich auch eine Art Mose sind. Was sagen wir, wenn uns die Welt in dieser finsteren Zeit fragt, woran wir glauben und woran sie glauben soll?


Liebe Schwestern und Brüder!


Wenn es stimmt, dass wir aufgeklärten Christen erwachsen geworden sind, dann versetzen wir uns zur Beantwortung dieser Frage doch am besten dorthin, wo Erwachsene manchmal am dringendsten gebraucht werden: an das Bett eines Kindes.


Nehmen wir an, Sie müssten ein Kind in den Schlaf begleiten. Das Kind hat Angst. Seit fast zwei Jahren versteht es die Welt noch weniger als zuvor. Und es fühlt, dass auch die Erwachsenen die Welt nicht mehr verstehen.


Das Kind sagt zu Ihnen: „Meine Großeltern haben mir immer gesagt, dass ich keine Angst vor bösen Träumen haben muss. ‚Die Ungeheuer, von denen du träumst, gibt es nicht‘, haben sie gesagt. Aber das war früher. Jetzt weiß ich, dass es sie gibt, diese Ungeheuer. Und alle haben vor ihnen Angst. Alle. Manche lassen es sich nicht anmerken. Aber ich weiß, dass auch sie Angst haben. Weil diese Ungeheuer überall sind. Vielleicht auch hier in meinem Zimmer. Und deshalb kann ich nicht mehr einschlafen. Bitte sag mir etwas, damit ich einschlafen kann.“


Was sagen wir erwachsenen Kinder Gottes den Kindern der Welt, wenn sie uns fragen, was ihr unruhiges Herz in dieser unruhigen Zeit ruhiger schla­gen und sie selig schlafen lässt? Welche güldnen Waffen stellen wir ihnen um die Betten? Was sagen wir den aufgewühlten Menschenkindern, um ihnen wirklich Hoffnung zu geben in den Wüstenwanderungen, in den finsteren Tälern und an den Totensonntagen ihres Lebens? Und was sagen wir zu uns selbst, wenn wir uns in einer Welt voller Ungeheuer Mut und Zuversicht zusprechen wollen? Was sagen wir?


Wenn ich am Bett des Kindes säße, würde ich mich selbst da liegen sehen und mich entsinnen, wie es war, als ich Angst hatte vor den Ungeheuern, vor denen Kinder eben Angst haben. Und ich würde wieder den Liedvers in meinem Kopf hören, den mein Vater damals vor fast fünfzig Jahren fast täglich vor dem Einschlafen für mich betete. Den Liedvers aus dem Gesangbuch, dessen seltsame Worte ich als Kind zwar nicht wirklich verstand, in deren Nähe ich mich aber immer sicher und geborgen fühlte. Bis heute. Ohne genau zu wissen, warum. Und so wür­de ich es auf den Versuch ankommen lassen, ob dieser Liedvers nicht auch ein anderes Kind ein halbes Jahrhundert später tröstet.


Nachdem ich ihm seinen Teddybären ans Herz gelegt hätte, würde ich also zu dem Kind, an dessen Bett ich sitze, sagen: „Ich habe etwas für dich. Etwas, das gegen Ungeheuer hilft. Etwas, vor dem alle Ungeheuer Angst haben. Es hat mir geholfen, als ich so klein war wie du. Und es hilft mir auch jetzt, wo ich groß bin. Und ich bin mir sicher, es hilft auch dir. Denn es hat magische Kraft. Es ist ein Gebet. Und es geht so:


‚Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen: ‚Dies Kind soll unverletzet sein.‘“


Genau das würde ich sagen. Nichts weniger Naives. Nichts weniger Weltfremdes. Nichts Vernünftigeres. Nichts entwicklungspsychologisch Sinnvolleres. Nichts Erwachseneres. Ich wür­de der uralten Angst der Kinder des Planeten Erde betend die unzerstörbare Hoffnung der Kinder Gottes entgegenhalten. Die Hoffnung der Kinder Gottes, die klug wie die Schlangen, ohne Falsch wie die Tauben und mit allen Wassern der Lebensweisheit und des Gottvertrauens gewaschen sind. Die Hoffnung, dass es aller Erfahrung zum Trotz wahr ist, dass wir unverletzt bleiben, wenn Satan uns verschlingen will und dass wir getrost schlafen können, weil der Hüter Israels nicht schläft noch schlummert.


Liebe Schwestern und Brüder!


Ich fürchte, wenn wir als Christen wirklich glaubwürdig sein wollen, müssen wir die Kom­­fortzone unserer aufgeklärten Gottesvorbehalte verlassen, all unseren Kinderglauben zusammennehmen und Mut zum Unglaublichen beweisen. Christen glauben Unglaubliches. Was sonst. Sie glauben an das Unglaubliche, dass Chris­­tus, der Retter, da ist. Wenn wir das Risiko der Vertröstung scheuen, weil uns dieses Unglaubliche zu viel oder zu wenig des Guten ist, werden wir an keinem Kinderbett, an keinem Krankenbett und an keinem Sterbebett der Welt trösten können. Wenn wir so sehr erwachsen, so sehr abgeklärt, so sehr zu Kindern dieser Welt und so sehr zu unseren eigenen Göttern geworden sind, dass wir uns des Evangeliums der Kinder Gottes schämen, haben wir als Christen keine Zukunft. Wenn uns der Stolz auf unsere moralische Selbstwirksamkeit das Beten verschlägt und wenn der Zweifel an Gottes Wirklichkeit uns das rettende Wort nicht mehr über die Lippen kommen lässt, sind wir als Kirche verloren. Wenn unsere Angst größer ist als die Angst der Welt, dann gute Nacht.


In Cormac McCarthys Roman „Die Straße” versucht ein Vater, mit seinem achtjährigen Sohn auf einer toten Erde zu überleben. Eine Katastrophe hat den Planeten in Schutt und Asche verwandelt. Der Himmel ist düster. Vater und Sohn tragen Masken, um sich vor dem giftigen Staub in der Atmosphäre zu schützen. Der Junge hat noch nie die Sonne gesehen. Es gibt keine Tiere und keine Pflanzen mehr. Nur noch ein paar Menschen, die um ihr Leben kämpfen. Die Supermärkte sind seit Jahren geplündert. Der Unterschied zwischen Humanität und Barbarei tritt auf finsterste Weise zu Tage. Die Einen essen Menschen. Die Anderen nicht. Und so tun der Junge und sein Vater alles, um auf ihrem Weg durch die Hölle niemandem zu begegnen.


Eines Tages sieht der kleine Junge aus der Ferne einen anderen kleinen Jungen. Er fleht seinen Vater an: „Lass uns den kleinen Jungen mitnehmen, Papa. Dann wäre ich nicht so allein. Lass ihn uns mitnehmen. Sonst ist er vielleicht verloren.“ Der Vater sagt: „Nein. Vielleicht ist der kleine Junge eine Falle. Ein Köder. Lass uns gehen.“ Und so überlassen sie den anderen kleinen Jungen seinem Schicksal.


Was sagt ein Vater in einer solchen Welt, wenn sein kleiner Sohn nicht einschlafen kann?


Der Vater sagt: „Wir sind die, die das Feuer tragen. Vergiss das nie. Wir tragen das Feuer.“


Und immer dann, wenn Kälte und Finsternis den kleinen Jungen zu verschlingen drohen, sagt er zu seinem Vater: „Wir tragen das Feuer. Nicht wahr, Papa? Wir sind die Guten. Und uns wird nichts Böses passieren. Uns wird nichts passieren, weil wir das Feuer tragen. Nicht wahr?“


Dann stirbt der Vater. Und sein Sohn, der weiß, dass er bald mutterseelenallein auf der Welt sein wird, fragt ihn:


„Erinnerst du dich an den kleinen Jungen, Papa?“ – „Ja“, sagt der Vater. „Ich erinnere mich an ihn.“ – „Glaubst du, es geht dem kleinen Jungen gut?“ – „O ja. Ich glaube, es geht ihm gut.“ – „Glaubst du, er ist verloren?“ – „Nein, ich glaube, er ist nicht verloren.“ – „Ich habe aber Angst, dass er verloren ist.“ – „Nein. Ich glaube, es geht ihm gut.“ – „Aber wer wird ihn finden, wenn er verloren ist? Wer wird den kleinen Jungen finden?“


Liebe Schwestern und Brüder!


Ich weiß es zwar, aber ich verrate es nicht, wie die Geschichte ausgeht. Lesen Sie selbst. Und haben Sie keine Angst. Sie werden einschlafen können. Ganz bestimmt.


Und was die andere Geschichte angeht, die Geschichte der Welt, in der wir leben, so weiß ich zwar nicht, welchen Weg sie nimmt und welche Wege wir noch geführt werden. Und anders als Mose auf der Schwelle zum Gelobten Land kann ich das Ziel nicht sehen.


Und doch weiß ich, wo die Geschichte enden wird.


Sie wird dort enden, wo nur der Glaube hinführen kann. Der Glaube, der drei Dinge weiß: Man kann nicht an den Menschen glauben. Und man kann eigentlich auch nicht an Gott glauben. Aber wir sind trotzdem nicht verloren. Weil Christus uns finden wird.


Er ist das Feuer. Amen.