Forum Kirche und Theologie:
Aktuelles

Dr. Norbert Roth
Pfarrer in München, Landessynodaler ELKB, EKD-Synodaler
„Der einzige Grund, Gott zu lieben ist Gott selbst“, schreibt der große Bernhard von Clairvaux. Und so banal dieser Satz scheint, so unwiderstehlich lockt er ins Nachdenken über die Wirklichkeit evangelischer Frömmigkeit und die spannungsreiche Reflexion theologischer Themen. In seiner Schrift über die Gottesliebe führte Bernhard vor 900 Jahren in Tiefen und Fragstellungen, die unserer Zeit im Suchen nach Selbstsinn, Selbstfürsorge, Selbstverwirklichung und Selbstwerdung liebevoll einen himmlischen, etwas beschlagenen Spiegel vorhalten. Seine vier Stufen der Gottesliebe sind für mich zu einem gut anwendbaren Grundschema geworden, Selbst- und Gottesbilder zu hinterfragen: Hängen wir auf der zweiten Stufen der Liebe fest: Ich liebe Gott um meinet willen… ?
Es geht doch um mich. Oder? Ums Ich. Meiner, mir mich… Und darin die Empfindungen des religiösen Gemüts. Theologie als die Beschreibung religiöser Erfahrungen – ganz unabhängig davon, ob mit Gott als wirklich autonomes, vom Gläubigen getrenntes Subjekt und Gegenüber gerechnet wird. Ich will heute Morgen keine Eulen nach Athen tragen, versuche also nah an meinen persönlichen Erfahrungen in der pastoralen Arbeit an einer sehr lebendigen und doch auch im Kontext der Gesamtkirche schleichend sterbenden Gemeinde zu bleiben.
Ganz kurz zur Einordnung: Ich bin geschäftsführender Pfarrer der Kirchengemeinde St. Matthäus in der Münchner City. Unsere Gemeinde hat an die 4000 Gemeindeglieder. Evangelisch-Lutherische Kirche in einer katholisch geprägten Großstadt – mit inzwischen weniger als 50 Prozent Christen. Bei uns finden sonntäglich drei Gottesdienste statt, im Durchschnitt mit insgesamt 400 Besuchern. Die Kirchlichkeit ist in Bayern (und auch in München) nach wie vor eine andere, als ich das von Orten anderswo in Deutschland weiß. Die Matthäuskirche ist auch der Predigtort des Landesbischofs der bayrischen Landeskirche, das Gemeindegebiet umfasst das urbane Herz Münchens – Altstadt, Bahnhofsviertel, Klinik-, Glockenbach- und Schlachthofviertel – jedoch nicht die sehr reichen, eher homogeneren Stadtteile. 80 % junge Singlehaushalte. Plurale Lebenswelten.
Der CVJM München engagiert sich stark in unserer Gemeinde. Menschen, die wissen, was Bekehrung bedeutet. Menschen aus unterschiedlichen spirituellen und konfessionellen Hintergründen – aber mit einer, um es in ihren Worten zu sagen, „lebendigen Jesus Beziehung“. Menschen, die aus Liebe zu Gott und den Menschen das Leben im CVJM aber auch unserer Gemeinde tragen. Ich erlebe hier eine andere Sehnsucht nach ernsthafter theologischer Vertiefung, als ich das aus der „normalen Gemeinde“ kenne. Die Frage nach Gott selbst – eben Gott um seiner selbst willen lieben – die Frage nach Gottes Liebe zur Welt und zum Einzelnen, die Fragen nach Zeit und Ewigkeit und Gottes Reich. Hinzu kommen die wichtigen und schwierigen Fragen nach Dignität von Bekenntnis (nicht ganz so wichtig) und Bibel.
Eine Gemeinde in der Gemeinde – ermöglicht durch eine volkskirchlich geprägte Großzügigkeit für eine freikirchlich gefärbte Entschlossenheit. In herrlicher Bereicherung und freundlicher Distanz.
So erlebe ich – wie viele andere Kolleginnen und Kollegen auch – eine Spannung in unserer Kirchlichkeit, die mich einerseits etwas ratlos zurücklässt, andererseits beflügelt und anspornt, dieses Geschenk der Großzügigkeit zu leben und so Menschen inside and outside the Box mit Jesus und dem Evangelium in Berührung zu bringen.
Das Beflügelnde lässt mich mit Lust und Freude Pfarrer sein. Und es ist auch stärker als das Dämpfende. Aber mir ist aufgetragen heute einige Andeutungen – mehr kann es auch nicht sein – dazu zu machen, was mich ratlos zurück lässt. Ich will dabei nicht der Versuchung erliegen, einfach zu analysieren – dafür gibt es Berufenere, oder einfach zu klagen – das wäre zu einfach und ohne Ertrag. Auch kann ich das nicht, da ich selbst in der Spannung zwischen Gemeinde- und Kirchenleitung stehe. Ich bin Mitglied der bayrischen Synode und des Landessynodalausschusses, Mitglied der EKD Synode und Vizepräsident der Generalsynode der VELKD. Und verantworte daher mit, was über die Gemeindegrenzen hinaus geschieht.
Also: In kirchenleitenden Gremien – aber inzwischen auch in der gewöhnlichen Kirchlichkeit erlebe ich Befremdendes. Ich frage mich, wann und wo ich den Verlust des Respekts oder gar des Schreckens vor Gott festmachen kann, den Verlust der Gottesfurcht, die doch – so sagt es der Psalm 111, der Anfang aller Weisheit ist. Ich schaue mir die neuen Lieder an, die wir singen, manche Gebete in den Büchern, Segenstexte und Kalendersprüche und glaube gelegentlich eine Gottesverniedlichung festzustellen. (Fulbert Steffensky hat den Begriff der „Verhaustierung Gottes“ geprägt). Gott ist harmlos geworden. Es braucht niemand vor ihm zu zittern, davonzulaufen, die Schuhe auszuziehen, das Gesicht zu verhüllen oder einfach mal den Mund zu halten. Er hat seinen Schrecken verloren. Der liebe Gott. Unsere Lieder, Gebete, Theologien sind fast von einstimmiger Vertrautheit ihm gegenüber. Wir stehen auf jeden Fall auf der Seite Gottes. Und er auf unserer. Zumindest solange (ihm) keine Dinge passieren, die wir ihm dann – (oder muss ich sagen: ihr?) – wie einen angebissenen Apfel als Theodizeefrage hin- und vorhalten.
Ich weiß nicht, wann das begonnen hat, dass unsere Theologie ihren Eros an Gott verloren hat und sich der Beschreibung des religiös-spirituellen Menschen zuwandte. Manche sprechen von einer Sozialpädagogisierung der Theologie. Sie geht von den Möglichkeiten des Menschen aus und rechnet nicht mehr mit den Möglichkeiten Gottes. Ob das am Paradigma der Modere, am verschämten Verschweigen eines möglichen höllischen Ausgangs des individuellen Geschicks, an der Moralisierung des Sündenbegriffs oder am der fehlenden Bereitschaft liegt, zu sich selbst in Distanz zu treten, will ich nicht behaupten. Jedenfalls zeitigt sich inzwischen Vieles auch in der Gemeindewirklichkeit, auf die ich im Folgenden kurz hinweisen will. Ich tu dies anhand der Feste im Kirchenjahr:
Weihnachten – Silvester (Inkarnation – Übergänge)
Spätestens seit der Pandemie hat auch der zuverlässigste Termin für volle Kirchen gelitten. Der Heilige Abend. Die Zahlen für die Gottesdienstbesuche sind freilich nach wie vor erfreulich hoch. Und ich weiß, dass die Vespern und Metten der Heiligen Nacht für Pastorinnen und Pfarrer zu den mit höchster Anspannung vorbereiteten Gottesdienste des Jahres gehören.
Doch was sagt man da? Machs wie Gott, werde Mensch? Das Geheimnis der Inkarnation Gottes – wie predigt und feiert man das? Der Entäußerung Gottes. Muss die göttliche Fleischwerdung zur humanisierenden Menschlichkeit verschoben werden, um sie verständlich zu machen… was sagt man da? Was wird überhaupt verstanden und findet in der Lebenswirkchlichkeit einen Anknüpfungpunkt so dass das „homo factus est“ sich tiefer und nachhaltiger in Geist und Seele legt, als ein kurzer, sentimentaler Moment von himmlischer Ruh‘. (Womit ich nichts gegen Sentimenatlitäten am Heiligen Abend gesagt haben will!)
Mehr als Sentimentalität verstört mich an manchen Predigten und Aufrufen zur Weihnachtszeit, dass sie sich in den üblichen und erwartbaren Appellen zum Frieden in der Welt, zu Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung erschöpfen. Was ist der Gewinn solch einer Ablenkung?
Auffällig ist, dass diese Sprachlosigkeit im Blick auf das weihnachtliche Geheimnis einen besonderen Effekt hat – die Zahlen an den Weihnachtsgottesdiensten nehmen ab (vor allem an den beiden Weihnachtsfeiertagen), während die Menschen vermehrt die Angebote der Kirchengemeinden zum Jahreswechsel wahrnehmen. Silvester ist das neue Weihnachten – heißt es. Was da nicht alles gesalbt, gebeichtet, gesegnet, angezündet und rituell verabschiedet wird. Der Anlass ist offenbar klarer – Zeitenwende. Abschied. Neuanfang. Hinter sich lassen. Die Guten Mächten besingen. Schuld eingestehen und Vergebung empfangen. Neue Chance ergreifen. Hoffnungen zum Ausdruck bringen. Kurz: Gott um meinetwillen lieben. Theologischer Gehalt – der der Bitte folgt: Kommt, lasset uns anbeten!, entfällt.
Karfreitag – Gesetz und Evangelium
Was für das Weihnachtsfest gilt, ist für den Karfreitag nicht weniger wahr. Als Lutheraner habe ich von Kindesbeinen an gelernt: Das ist der höchste Feiertag! Der Allerhöchste. Gott versöhnt die Welt. Mit sich, miteinander und „All Fehd hat nun ein Ende!“. Der Sünder und die Sünderin dürfen aufatmen. Christus heilt durch seine Wunden. Die Strafe liegt auf ihm – friedenswirksam. Der Allerhöchste Feiertag.
Unverständlich. Weil dem natürlichen Menschen diese himmlische Wahrheit verschlossen bleibt. Gott selbst hält den Buckel hin. Er erspart es sich selbst nicht – und uns auch nicht. Könnte er doch machen – sagt man schnell. Wozu der Sühnegedanke, wozu ein Wort von Opfer – victima et sacrificium… ? Zu fremd. Zu archaisch, zu evangelisch. Und so wird im Handumdrehen aus dem Evangelium Gesetz. Aus Sacrificium wird Exemplum. Erklärt euch! Solidarisiert euch mit den Leidenden. Den Sterbenden, den zu unrecht Verfolgten. Den Opfern von Dikatur, Willkür und Verrat und Kaptialismus und Klimawandel. Und Jesus bleibt ein Durchkreuzter unter Tausenden. Austauschbar.
Die Tiefen einer theologia crucis gilt es neu auszuloten und zu formulieren, die einer verwundeten und erlösungsbedürftigen Welt – sowie einer sterbenden und machtlosen Kirche angemessener sind als jede Art moralischer Überlegenheit.
Ostern – Auferstehung und Wiedergeburt
Was an Ostern häufig zu hören ist, korrespondiert mit dem, was auf vielen Trauerfeiern erklingt. Das führe ich auch auf eine sich verändernde Bestattungskultur und eine aus virtuellen Wirklichkeiten gespeisten Vorstellung von Leben und Tod, Himmel, Hölle, Ewigkeiten zurück. Ich habe schon öfter – und das wäre auch für unser Forum eine Runde es Gespräches wert – mit akademischen Lehrern darüber gesprochen: Wie gehen wir als evangelische Christen mit den Vorstellungen von Tod und Auferstehung unserer Gemeindemitglieder – oder auch der Familien, die sich nicht mehr zur Kirche halten – um? Die wachsende Tendenz zur anonymen Bestattung unter Bäumen – der heimliche und offenkundige Epikureismus, den niemand freilich so nennt – haben wenig mit christlicher Auferstehungshoffnung zu tun. Die ungefilterte stetige Rede von einer unsterblichen Seele. Die menschliche Hülle. Das Weiterleben im Herzen der Hinterbliebenen. Das Seligsprechen am offenen Grab.
All diese Bilder und Metaphern, die dann zu Ostern zur Tulpenzwiebel und zum Frühlingswunder der immer erwachenden Natur werden – wenn von der Auferstehung Jesu die Rede ist. Die große Mühe, mit der Kargheit der Botschaft vom leeren Grab umzugehen und diese Leerstelle auszuhalten, bzw. fruchtbar zu verkündigen.
Pfingsten – Bekehrung und Erleuchtung
Was am Genus des Heiligen Geistes so verwerflich sein soll, dass er zur heiligen Geistkraft entpersonalisiert wird, hat sich mir bisher noch nicht erschlossen. Was ist damit gewonnen? Und das frage ich mich auch im Blick auf die Deutungen des Wirkens des Geistes zum Pfingstfest. Das Sprachwunder wird zur Ermöglichung einer homogenen Welt – die sich plötzlich versteht und befriedet wird. Ist das Pfingsten?
Hierzu könnte ich – der ich auch in der charismatischen Bewegung zu Hause bin – viel sagen. Will es aber hiermit belassen. Einen Punkt muss ich aber noch ansprechen. Die Herausforderung, die sich mit dem religiösen Pluralismus und der Indifferenz der Theologie in den Gemeinden zeigt. Glauben Christen und Muslime an denselben Gott? Vielen Gemeindegliedern leuchten die Unterschiede nicht ein, die die das Bekenntnis macht. … Ein großes Schweigen der christlichen Theologie, akademisch wie kirchlich. Ich fürchte, wir würden den Migraten eher Moscheen bauen, als ihnen das Evangelium von Jesus, dem Christus sagen…
Schließlich: Die vierte Stufe der Liebe lautet bei Bernhard von Clairvaux: Ich liebe mich um Gottes Willen. Wenn Gottes Liebe gilt – mir, dem sündhaften, sterblichen Geschöpf wer bin ich dann, dass ich mich dem Gefühl der Unzulänglichkeit so zu entziehen suche, dass ich mich selbst aus dem Sumpf aller Kontingenzen ziehe? Durch Spiritualität, Moral oder Virtualität? Der einzige Grund Gott zu lieben ist Gott und diese Liebe ist Liebe ohne Maß.