Forum Kirche und Theologie:
Kontroverses
Günter Thomas
Wo ereignet sich Diakonie? Oder: Unternehmerische Diakonie als problemschaffende Lösung
[Auf den nachstehenden Text hat
Thomas Lunkenheimer reagiert;
er ist Pfarrer und Theologischer Vorstrand der
Diakonie Stiftung Salem in Minden.
Seine Antwort finden Sie
hier.]
Die unternehmerische Diakonie ist ein wichtiger Bestandteil des deutschen Sozialstaats wie auch des verfassten Protestantismus in Deutschland. Zugleich führt sie zu höchst problematischen Verzerrungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Kirche, die dringend durchdacht und adressiert werden müssen. Denn die unternehmerische Diakonie ist eine problemschaffende Lösung, die es realistisch wahrzunehmen gilt. Wichtig ist: Wer dabei das Problem sieht, stellt nicht die Lösung in Frage. Er sucht aber eine Lösung für das neue Problem.
Unternehmerische Diakonie im Sozialstaat
Wenn von Diakonie die Rede ist, dann steht die unternehmerische Diakonie im Fokus der Aufmerksamkeit. Die Homepage der EKD erklärt mit großer Selbstverständlichkeit diese unternehmerische Diakonie zur kirchlichen Gestalt der Nächstenliebe: „Praktizierte Nächstenliebe: Hilfe für Menschen in Not und in sozial ungerechten Verhältnissen ist für Christinnen und Christen eine ständige Verpflichtung. Denn der Glaube an Jesus Christus und die praktizierte Nächstenliebe gehören zusammen. Das zeigt auch das Wort ‚Diakonie‘: unter diakonia versteht man im Altgriechischen alle Aspekte des Dienstes am Nächsten. Die Diakonie setzt sich im In- und Ausland für bedürftige Menschen ein – für Kranke und Pflegebedürftige, für Arme und Notleidende“. Ganz entsprechend erklärt der Artikel 14 der Grundordnung der EKD: (1) 1 Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Gliedkirchen sind gerufen, Christi Liebe in Wort und Tat zu verkündigen. Diese Liebe verpflichtet alle Glieder der Kirche zum Dienst und gewinnt in besonderer Weise Gestalt im Diakonat der Kirche; demgemäß sind die diakonisch-missionarischen Werke Wesens- und Lebensäußerung der Kirche“. Analog dazu proklamiert das „Kirchengesetz über das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.“ in seiner Präambel: „In Jesus Christus hat Gott seine Liebe zur Welt erwiesen. Die Kirche hat den Auftrag, diese Liebe allen Menschen durch Wort und Tat zu bezeugen. Im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. (im Weiteren: Verein) nimmt die Evangelische Kirche in Deutschland im Zusammenwirken mit Freikirchen und anderen Kirchen diesen Auftrag wahr und bekräftigt die Zusammengehörigkeit des Entwicklungsdienstes mit der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche.“
Im Jahr 2022 waren insgesamt rund 630.000 hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigt, und dies allein auf evangelischer Seite, d.h. ohne die katholische Caritas. Von der Altenhilfe, über Krankenhäuser hin zur Jugendhilfe sind weite Bereiche des modernen Hilfehandelns abgedeckt. Ökonomisch befindet sich die unternehmerische Diakonie in einer ganz anderen Liga als die Landeskirchen. Während die Evangelischen Landeskirchen im Jahr 2023 ca. 5,9 Milliarden Euro Kirchensteuern einnahmen, dürfte bei weitestgehender Refinanzierung der Umsatz der evangelischen unternehmerischen Diakonie bei 60 Milliarden Euro liegen. 1:10 ist das Größenverhältnis. Allein die evangelischen Krankenhäuser haben nach Auskunft des DEKV einen Umsatz von 10 Milliarden Euro.
Gut organisiert, mit einer prächtigen Konzernzentrale und besten Vernetzungen in die Politik ist die unternehmerische Diakonie keine selbstbewußtseinsfreie Zone. Sich ihrer Rolle, ihrer Leistungen und ihrer Notwendigkeit – man möchte sagen: Systemrelevanz – wohl bewußt, findet man hier das Match aus Selbstbewußtsein und öffentlichem Respekt, das man mit längst vergangenen Zeiten eines herrschaftlichen Kirchenregiments verbinden kann. Strukturell mit den Landeskirchen gekoppelt, sitzen ihre Vertreterinnen und Vertreter in den Kirchenleitungen – ohne dass die Präses oder die Bischöfe tatsächlich ein Direktionsrecht besäßen.
Einerseits bewegt sich die unternehmerische Diakonie auf einem kompetitiven Sozialmarkt, andererseits sind ihr – außer demographiebedingt fehlenden Mitarbeitern – weder finanziell noch personell wie der Gemeindekirche Grenzen gesetzt. Weitestgehend fremdfinanziert von den verschiedenen Kostenträgern des Sozialstaats kann diese – wollte man eine alte Vorstellung aufrufen – militia christi personell auf Fremdenlegionäre zurückgreifen: Die Zahl der Christen begrenzt nicht ihre Expansion.
Ob sich die Unternehmen der Diakonie im Unterschied zu anderen Sozialunternehmen tatsächlich durch eine „konsequente Werte- und Gemeinwohlorientierung“ auszeichnen, „christlich motivierten Dienst am Nächsten“ leisten, einen „ganzheitlichen Ansatz“ bieten und „ein Zeichen der Nächstenliebe“ in einer von monetären Anreizen getriebenen Gesellschaft darstellen, mag an dieser Stelle dahingestellt sein. Auch die Frage nach dem Charakter der sogenannten Dienstgemeinschaft kann hier hintenangestellt werden.
Unstrittig ist, dass die Werke und Einrichtungen der unternehmerischen Diakonie effektive Stützen des Sozialstaates sind und einen wesentlichen Beitrag zur Wahrung und Bewährung von Humanität leisten. Weder die evangelische unternehmerische Diakonie noch die katholische unternehmerische Caritas sind aus dem Gefüge des deutschen Sozialstaats wegzudenken.
Gemeindediakonie
Das Verhältnis zwischen den Gemeinden und der unternehmerischen Diakonie ist komplex. Gemeinde und Kirchenkreise sind nicht selten Träger von Einrichtungen der unternehmerischen Diakonie. Dekane oder Superintendenten treten so im weiteren Sinne als Arbeitgeber auf. Mit Gemeindediakonie im Unterschied der unternehmerischen Diakonie ist daher nicht nur der Ort diese Diakonie benannt, sondern der Unterschied liegt im Unternehmerischen. Wenn eine Stiftskirche zur Vesperkirche umgebaut wird und dutzende von Bänken zu tragen sind, dann ist dies Gemeindediakonie. Gemeindegruppen, die sich zugunsten der Flüchtlingshilfe organisieren, sind diakonisch unterwegs. Im Rückblick waren es im Herbst 2015 die Mobilisierungsmöglichkeiten der Gemeinden, die einen wirksamen diakonischen Unterschied ausmachten. Duschen konnten in Gemeindehäuser eingebaut werden. Auf der lokalen Ebene ließ sich ein erstaunliches Hilfehandeln organisieren. Auf der Ebene der Gemeindediakonie findet sich eine Mitmachdiakonie. Auf dieser Ebene werden bei Jugendlichen lebensgeschichtlich prägende und eine Ethos formende Ankererfahrungen verwundbarer und fürsorglicher Existenz gemacht. Nicht umsonst schließt die Konfirmandenarbeit an vielen Orten diakonische Projekte ein.
Die Gemeindediakonie ermöglicht Menschen in der Kirche, abhängig von ihren aktuell lebensgeschichtlich mobilisierbaren Ressourcen, ihre ganz eigene Gestalt der Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung zu leben. Sie befähigt – wohlweislich innerhalb der engen Grenzen des Sozialstaates – diakonische Nachfolge zu leben. Dies ist nicht zuletzt für Männer mit schwerer Zunge und wenig Sinn für Kaffee und Brezeln eine so wichtige wie weithin vernachlässigte Gestalt der Nachfolge. Selbstredend erreicht die Gemeindediakonie nicht das Niveau der Professionalität und Kontinuität wie das Organisationshandeln unternehmerischer Diakonie. Jenseits falscher Idealisierungen zeigt jedoch der Blick in die weltweite Kirche, welche Potentiale dieses diakonische Handeln der Kirche für das Leben von Gemeinden hat. Es ist eine diakonische Gestalt des Christseins diesseits der Spezialisierung, Professionalisierung, komplexen Organisation und der Verträge.
Alltagschristen – diakonische Existenzen in nicht-kirchlichen Einrichtungen
Die kulturelle und theologische Erfolgsgeschichte des Protestantismus war es und ist es immer noch in der weiteren Ökumene, die Alltagschristen zu sehen, zu würdigen und die Arbeit in den Berufen als Ereignis wohlwollender göttlicher Berufung zu begreifen. Das Gold der Putten der Barockkirchen liegt für Protestanten auf den ihren Kampf kämpfenden Alltagsheiligen. Nicht erst ab dem Montagmorgen, sondern 24/7 sind Christen als Pflegefachkräfte, als Altenpfleger, als Ärzte in städtischen und privaten Einrichtungen der Fürsorge tätig. Hunderttausende Christen begreifen es als ihre berufliche und spirituelle Berufung, in diesen Hilfe- und Befähigungseinrichtungen zu arbeiten. In dieser durch und durch protestantischen Gestalt der diakonischen Existenz arbeiten sie in den ganz weltlichen Gestalten der Hilfeorganisationen. Seit den Anfängen des Christentums waren Christen in den verschiedenen Zweigen ärztlichen Handelns (im weiteren Sinne) gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil überrepräsentiert.
Viele Tausende aufrechte Protestantinnen und Protestanten leben ihr Christsein in ihrem Fürsorgeberuf in ganz und gar „nicht-diakonischen“ Einrichtungen – fern der Kirche. In einem durchsäkularisierten Umfeld müssen sie gewollt oder ungewollt ihren Glauben und das diesem entsprechende Ethos bewähren. Sie leben und arbeiten in diesen weltlichen Fürsorgeorganisationen „mikrotransformativ“, kleine Freiräume auslotend, Humanität bewahrend oder einklagend. Noch bevor irgendwelche Theologen irgendeine öffentliche Theologie für ihr Sagen reklamieren, arbeitet das Erbarmensethos des Christen im kommunalen Altenheim. „Christliche Nächstenliebe“ tragen diese Diakoniker nicht als Plakat vor sich her, sondern leben in den Möglichkeitsräumen der Profession ein Barmherzigkeitsethos bzw. leiden an der Unmöglichkeit, dieses Ethos einzubringen. Auch sie leben und arbeiten zu oft am Rande der Erschöpfung. Berufung verspricht nicht Glück, sondern Anfechtung und Befriedigung.
Entscheidend ist: Diese Christen sind eine mächtige Gestalt des diakonischen Handelns der Kirche. Sie müssen speziell für die Evangelische Kirche eine Manifestation eines Kernanliegens des Protestantismus sein.
Diakoniker im Schatten stehend – häusliche Pflege
Wer im Schatten steht, wird gerne übersehen. Die Diakoniker, die tatsächlich im Schatten nicht nur der allgemeinen öffentlichen, sondern auch der kirchlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung stehen, sind die häuslich pflegenden Menschen. Die Politik nutzt sie gerne, auch das Gesundheitssystem nutzt sie, soweit es kann. Das Krankenversicherungswesen hat ein höchst ambivalentes Verhältnis zu ihnen. Es ist sich der Entlastungsfunktion der Praktiker im Schatten wohl bewusst und fürchtet sich zugleich vor dem Erwachen von weitergehenden Ansprüchen. 3,12 Millionen Pflegebedürftige wurden 2021 durch Angehörige zu Hause gepflegt, 4,17 Millionen insgesamt. Darüber, wie viele der Pflegenden Christen sind, kann nur gemutmaßt werden. Aber es ist mit Sicherheit ein ganzes Schattenheer der diakonischen militia christi.
Diese Millionen von Christen pflegen Kinder, Eltern und Angehörige. Als Partner, Kinder und Eltern, als Freunde und sonst Nahestehenden sind sie aktiv in der Betreuung chronisch oder degenerativ Kranker eingebunden. Mit wachsender externer Unterstützung nehmen sie sich jahrelang sogenannter austherapierter und oft nur begleitender Partner, Kinder oder Eltern an. Weithin unsichtbar und ohne öffentliche Aufmerksamkeit pflegen jeden Tag unzählige Menschen, Christen wie Nicht-Christen hingebungsvoll und aufopfernd ihre depressiven oder dementen Angehörigen oder ihnen nahe stehende Menschen. Diese häuslichen Diakoniker unterstützen Andere nach Jahren oder Jahrzehnten gemeinsamen Lebens. Kinder übernehmen über viele Jahre die Sorge für kranke Eltern. Sie sind es, die vielfach Kämpfe auszufechten haben, wo der Kampf gegen die Chaosmächte der Krankheit nicht mehr zu gewinnen ist. Diese Diakoniker werden stille Garanten von Lebensqualität. Diese Diakoniker pendeln oft zwischen Krankenhaus, Heim und Zuhause, um die aussichtslosen Fälle zu versorgen. Sie arbeiten mit den motivationalen Ressourcen des Glaubens oder der familialen Solidarität. Die Diakoniker in der häuslichen Pflege leisten in der Summe nicht nur Unbezahlbares, sondern sind ganz unfreiwillig ein mächtiges Zeichen der Humanität, im Vorfeld und im Nachgang zu organisationsförmiger Fürsorge und funktionaler Differenzierung. Sie arbeiten wie Menschen in der Gemeindediakonie ohne Vertrag und nur mit schwachen Kompensationszahlungen (Pflegegeld). D.h., sie arbeiten an einem basalen, vorvertraglichen Humanum als Bestimmung der Existenz.
Selbstverständlich finden sich in dieser Gestalt der Diakonie auch Überforderung. Selbstausbeutung, Machtmissbrauch, Erpressung und Grenzüberschreitungen von beiden Seiten. Es finden sich auch ambivalente Verwebungen eines Geistes des vitalen Lebens («Blut ist dicker als Wasser») und eines jesuanischen Geistes der Barmherzigkeit. Viele Pflegende sind eingeklemmt zwischen Selbstüberforderung und einem anklagenden Gewissen. Und doch, sie opfern reale Lebenszeit und Lebensmöglichkeiten. Jeder Mensch, der einen parkinsonkranken, einen schwer depressiven oder einen an Multipler Sklerose erkrankten Partner oder auch ein lange krankes Kind umsorgt, kann dies bestätigen. Diese Diakonie lebt in einer Selbstverständlichkeit der Fürsorge in nicht-ökonomischen Beziehungen als Gabe und vor allem im Dickicht des Alltags. Das kirchliche und diakonietheologische Übersehen dieser Diakonier überrascht, bedenkt man, welche Tiefe Einblicke die Seelsorgepraxis der Pfarrerinnen und Pfarrer in diese Welt der häuslichen Pflege gewährt.
Anonyme Diakoniker – an den Nachtseiten des Lebens arbeitend
An den vielgestaltigen Nachtseiten des Lebens arbeitet ein ganzes Ensemble von Menschen, um angesichts von Zerstörung, Gewalt, Verzweiflung, naturalem und sozialem Elend eine gewisse Humanität aufrecht zu erhalten. Wenn das Leben den Gefährdungen durch die Natur, durch andere Menschen oder durch das Selbst erliegt, dann taucht es ein in die Nachtseiten des Lebens. In Rettungsdiensten, in Beratungsstellen, in den Notaufnahmen und in den Sozialdiensten, bei der Polizei und bei der Feuerwehr arbeiten diese anonymen Diakoniker. Der Operateur, der nachts um drei sich um eine Borderlinepatientin müht, die meinte, eine Glasscherbe schlucken zu müssen, gehört dazu. Ohne ihre Arbeit mit den Traditionen des Christentums zu begreifen und ohne sich selbst als Glaubende oder Zweifelnde zu verstehen, versuchen diese anonymen Diakoniker, inmitten von Krisen und Bedrohungen, inmitten von Selbst- und Fremdgefährdung und Kontexten von Verzweiflung, Gewalt und aktuell zerbrechlichen Lebens das menschliche Angesicht zu bewahren. Dort wo das aufblühende, das starke und olympische Leben nicht gefeiert wird, sondern nie da war, sind diese diakonischen Arbeiterinnen und Arbeiter an den Nachtseiten des Lebens gegenwärtig. Oft ohne sichere Aussichten auf Erfolg, halten sie den Verfall mit mehr oder weniger machtvollen Interventionen auf. Sie leben einen Geist der Zuwendung und praktischen Hoffnung, der nicht wenige Analogien mit dem Geist Gottes hat, ja, manchmal wohl dieser selbst ist. Im Alltag steht niemand für diese Diakoniker auf den Balkonen, um als Zeichen der anerkennenden Solidarität auf Töpfe zu schlagen. Wagt sich die Pfarrerin auf das Feuerwehrfest, mischt sich der Dekan in die gestresst wartende Hundertschaft der Polizei oder besucht die Umweltreferentin das dieselgeschwängerte Sommercamp des technischen Hilfswerks, so stehen die Chancen gut, solchen anonymen Diakonikern zu begegnen. Die Notfallseelsorger wissen um sie. Und sie wissen um die kleinen, sehr zerbrechlichen Zeichen der Erlösung.
Das Ethos dieser Diakoniker speist sich aus vielfältigen Quellen. Familiale Solidarität, ein lokales Gruppenbewusstsein, Dankbarkeit, das Bewusstsein, etwas machen zu können, ein Humanismus oder eine tief verankert Suche nach Gerechtigkeit. Die Liste ließe sich leicht verlängern. Die Eigenprofilierungen der unternehmerischen christlichen Diakonie offenbaren sich angesichts des außerkirchlichen praktischen Hilfeethos als das, was sie oft sind: Pathosformeln. Sind die anonymen Diakoniker, die an den Nachtseiten des Lebens arbeiten eine Lebensäußerung der Kirche? Dies zu behaupten wäre theologisch mehr als übergriffig. Und doch: Sind sie eine Lebensäußerung des Geistes Gottes? Dies ist mit Gründen ernsthaft zu erwägen.
Wo steckt das Problem?
Wo steckt in dieser Vielfalt der Diakonie das Problem? Warum bilden diese fünf Gestalten nicht einen wilden bunten Blumenstrauß? Warum sollten die fünf Gestalten nicht in ihrer wunderbaren wechselseitigen Ergänzung gesehen werden? Leisten nicht auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ökonomischen Diakonie zumindest Vergleichbares wie die anderen Diakoniker?
Nun, das Problem liegt in der Lösung. Zweifellos ist die unternehmerische Diakonie einer beeindruckende Erfolgsgeschichte im Ausbau des bundesrepublikanischen Sozialstaats. Sie ist unstrittig ein starkes Moment der langen Tradition der Kirche, die eigenen Grenzen und die familialen Grenzen im Fürsorgehandeln zu überschreiten. Selbstverständlich! Aber diese Lösung hat ein Problem geschaffen – ohne dass hier einzelne „Übeltäter“ auszumachen sind.
Das Problem, und d. h. ganz konkret, das durch das Anwachsen der unternehmerischen Diakonie über Jahrzehnte gewachsene Problem ist die systematische, strukturelle und im Kern theologische Missachtung der nicht-unternehmerischen Gestalten der Diakonie. Das Problem ist ein in die Theologie, in die Organisation der Landeskirchen, in Kirchenleitungen, in Gemeinden, in die theologische Reflexion der Diakonie und nicht zuletzt in spirituelle Formen tief eingeschriebener und ganz und gar unprotestantischer Neglect. Nicht selten mischt sich in die Missachtung Verachtung. Die unzureichende Wahrnehmung der Gemeindediakonie, die Nichtwahrnehmung der evangelischen diakonischen Existenzen in nicht-kirchlichen Organisationen, die Blindheit für die „Schattenarmee“ der häuslichen Diakoniker und die nicht zuletzt sich in diakonischen Selbstbeschreibungen findenden indirekten Herabsetzungen der anonymen Diakoniker („Wir haben die Werte, bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt…“) beschädigt die Kirche. All diese Diakoniker außerhalb der unternehmerischen Diakonie nicht angemessen theologisch und organisatorisch zu sehen und zu würdigen, ist in der Tat sehr unredlich, ja, beschämend, theologisch falsch und kirchenstrategisch unklug.
Diese vieltausend Protestanten, die sich bewußt für einen im weiteren Sinne helfenden Beruf entschieden haben und außerhalb der Kirche und jenseits der unternehmerischen Diakonie arbeiten, sind nicht organisiert. In einer Organisation, die dazu tendiert nur organisatorische Probleme zu sehen, sind sie darum auch nicht repräsentiert. Die Christin, die als Jugendhelferin bei der AWO ihren Dienst tut, entgeht der kirchlichen Wahrnehmung. Die evangelische Oberärztin am Kreiskrankenhaus wird in ihrer diakonischen Existenz weder im Gemeindebrief noch an den Tischen der Kirchenleitungen gesehen. Der Pfleger auf der Demenzstation der Psychiatrie taucht in keiner kirchlichen Diakoniestatistik und auch keiner akademischen Seminarlektüre auf. Der Sozialarbeiter in der Jugendhilfe des Kreises schafft es nie in eine Werbebroschüre der Diakonie, von einem Riesendiakonieposter auf LKW-Plane gedruckt und an eine Gebäudewand gehängt, ganz zu schweigen. Gegen die Hochglanz-Werbebroschüren-Diakonie der Unternehmen kommt keine lokale Jugendinitiative an. Sie bleibt eine Spielwiese, die darum so selten betreten wird. Die als Christen in nicht-kirchlichen Organisationen tätigen Menschen, diese, etwas pathetisch formuliert, diese Glaubenszeugen, die tagtäglich mit Gummistiefeln in moralischen Morastlandschaften unterwegs sind, finden keinen Platz in der Grundordnung der EKD. Der Polizist, der sich bespucken lassen muss und dennoch Contenance bewahrt, hat keinen Pressesprecher und keine Homepage. Die Frau, die ihren dementen Mann versorgt und die Mutter, die ihr behindertes Kind förderlich umgibt, tauchen auch nicht von Ferne in den Büros der Hannoveraner Kirchenstrategen oder der Berliner Diakoniezentrale auf.
Der in der innerkirchlichen und außerkirchlichen Pressearbeit, in der Organisation und in der Theologie gepflegte Tunnelblick auf die unternehmerische Diakonie setzt in vielfältiger Hinsicht einen falschen Pfad, prägt eine falsche und letztlich selbstzerstörerische Fremd- und Selbstwahrnehmung der Kirche – nicht trotz, sondern aufgrund der Leistungen der unternehmerischen Diakonie.
Der stets auf die Diakonieorganisationen gelenkte Blick verstärkt den Eindruck, dass kirchliches Handeln letztlich Organisationshandeln ist – und eben nicht die Summe des Handelns der vielen Christenmenschen. Kirche ist scheinbar eine Versorgungsorganisation für Klienten. Eine kundenförmige Religion wird routinisiert. In diesem Stolz auf die funktionale Organisation dokumentiert sich im Protestantismus eine so erstaunliche wie un/heimliche Verachtung der Alltagschristen außerhalb der Organisation. Ein Protestantismus, der nicht in der Lage ist, die einzelnen Christenmenschen zu „sehen“, läuft aufs Riff. In funktional ausdifferenzierten Gesellschaften muss das großformative Hilfehandeln notwendig – wie Max Weber sagen würde – bürokratisiert werden. Dies ist nicht zu debattieren. Darum sind die Mühen und Erfolge der unternehmerischen Diakonie auch nicht zu kritisieren. Allerdings müssen die Rückwirkungen auf die sonstige Kirche und auf das Verständnis von Kirchen und Religion bedacht werden. Das mit der übermächtigen Lösung geschaffene und wachsende Problem darf nicht übersehen werden.
Die kirchliche Bezeichnung und die Selbstbeschreibung der unternehmerischen Diakonie als Gestalt der christlichen Nächstenliebe unterminiert langfristig ein christliches Verständnis von Liebe. Im Denkraum des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter formuliert: Die unternehmerische Diakonie repräsentiert nicht den barmherzigen Samariter, sondern den vertragsbasiert handelnden Wirt. Samariter sind die Bürger dieses Sozialstaates, die diese Gestalt der Humanität zu finanzieren bereit sind. Unternehmerische Diakonie praktiziert im Kern keine Gabe, sondern vollzieht einen Tausch und führt einen Vertrag aus. Die Klienten haben Rechte, die im Organisationshandeln gewährt werden. Leistungserbringung gegenüber Menschen mit Rechtsanspruch ist aber keine Barmherzigkeit sondern ein Rechtsanspruch. Kurz: Geschenkt wird hier nichts. Allzu viele Menschen ohne Versicherungskarte können in den evangelischen Krankenhäusern nicht behandelt werden. Nur die verlustbereite Gabe wäre ein Gleichnis göttlicher Gabe und Liebe. Wollte man solche Gleichnisse benennen, so würde man sie u.a. in Praktiken häuslicher Pflege mit einseitiger Gabe an Lebenszeit mit offensichtlichen Verlusten an Lebensmöglichkeiten finden.
Was ist zu tun?
Durchatmen, die verschiedenen Gestalten der Diakonie im eigenen Handlungsraum wahrnehmen. An erster Stelle steht ein Sehen lernen. Dann müssen die Kirchen etwas tun, was ohne Zweifel schwerfällt. Sie müssen um ihrer selbst willen und um einer angemessenen sozial-phänomenologischen wie auch angemessenen spirituellen Selbstwahrnehmung willen ein überbordendes Selbstbewußtsein der unternehmerischen Diakonie zurückweisen. Wer sagt, „Wir sind die Diakonie der Kirche!“ liegt falsch. Wer auch nur habituell diesen Eindruck erweckt, irrt.
Letztlich liegt an dieser Stelle für die Gestaltung des Protestantismus in Deutschland die Frage auf dem Tisch, ob die unternehmerische Diakonie im prägnanten Sinn Kirche ist oder in Wahrheit zur sozialen Serviceindustrie des Sozialstaates gehört. Verglichen mit der öffentlichen Präsenz und der Macht der unternehmerischen Diakonie fehlt den Kirchen weithin ein Sensorium für die Leistungen der Humanität, die auf den anderen Feldern der Diakonie im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit und im Schatten der kirchlichen Selbstwahrnehmung erbracht werden. Die Geduld und Ausdauer, mit der auch in entwickelten, als Sozialstaat organisierten Industrienationen im familiären Raum Erbarmen praktiziert wird, sollte theologisch zu denken geben.
Wichtiger ist, für die Diakoniker außerhalb der Diakonieunternehmen Formen der angemessenen kirchlichen Wahrnehmung, und d.h. auch spirituellen Würdigung zu finden. Diese Menschen dürfen von einer Kirche, die einen Gott verehrt, der sieht, auch gesehen werden. Ohne zu bedrängen, kann ihnen signalisiert werden, dass sie Teil des Projektes der Diakonie, Moment der Fürsorge Gottes sind. In diesem Sinne wären Formen der gedenkenden Kooperation mit Gemeinden vorstellbar. Wenn der Tunnelblick geweitet wird, dann können zweifellos kreativ vielfältige Formen der geistlichen Würdigung gefunden werden.
Die Wahrnehmung nicht nur der diakonischen Professionen, aber tatsächlich auch dieser Professionen eröffnet für die Kirchen ein Lern- und Entdeckungsfeld für Christsein und für freie Humanität in der spätmodernen ausdifferenzierten Gesellschaft. Die Aufweitung des Tunnels eröffnet ein faktisch vorhandenes Experimentierfeld öffentlicher Theologie. Eine hörende Kirche wird die nicht-anonymen und die anonymen Diakoniker zur ihrer Arbeit, ihren Konflikten, ihren Erfolgen und ihrem Leiden auch sprechen lassen. All diese verschiedenen Gestalten der Diakonie und die in ihnen arbeitenden Diakoniker sind ein ungehobener Schatz des landeskirchlichen Protestantismus. Ihn zu heben wird ganz sicher auf allen Ebenen der Landeskirchen belebend und antidepressiv wirken.