Forum Kirche und Theologie:
Predigten
Dr. Gottfried Claß
Predigt zu Röm 13, 1-7
Für den 03.11.2024, 23. Sonntag nach Trinitatis
Exegetische Vorbemerkungen:
Mit diesen Aussagen des Paulus taten sich Christen immer wieder schwer. Zumal nach der Erfahrung des Dritten Reichs, diesem ungeheuren Machtmissbrauch, den wir Deutsche erlebt und verschuldet haben. Seitdem haben viele in der evangelischen Kirche ein ausgesprochen „nervöses Verhältnis“ (Eberhard Jüngel) zu allem, was nach Macht und Herrschaft aussieht.
Doch in der Gegenwart hat dieser Text eine ganz neue Bedeutung und Brisanz gewonnen. Denn wir leben im Zeitalter der „Wutbürger“. Wut gegen „die da oben“, gegen diesen Staat, seine Institutionen und Repräsentanten. Sie ist gefährlich. Denn sie greift die Grundlagen unserer parlamentarischen Demokratie an. Umso größeres Gewicht kommt Römer 13 zu. Paulus versteht die politische Herrschaft von ihrem göttlichen Auftrag her. Sie soll für das Gemeinwohl sorgen, indem sie ein geordnetes Zusammenleben ermöglicht. Sie soll das Gute fördern und schützen und das Böse abwehren und bestrafen. Die politischen Ordnungen sind zwar ein Provisorium und nicht für die Ewigkeit geschaffen, da sie zur vergehenden Welt gehören. Sie stehen jedoch im Dienste Gottes. Hätten wir keine geordneten Verhältnisse, herrschte das Chaos rücksichtsloser individueller Selbstdurchsetzung. Dabei käme die Liebe unter die Räder. Darum ist für Paulus die staatliche Ordnung und Autorität eine Wohltat Gottes. Sie zu achten und zu respektieren, ist sehr wohl mit der christlichen Freiheit vereinbar, ja geboten. Diese Aussagen sind adressiert an enthusiastisch- schwärmerische christliche Kreise. Diese verstehen ihre Freiheit im Glauben so, dass für sie die Bindungen und Ordnungen dieser Welt jetzt schon aufgehoben sind. Sie wollen dem römischen Staat auch keine Steuern mehr zahlen. Überhaupt haben sie für den Staat und seine Einrichtungen nur Geringschätzung und Verachtung übrig. Darin treffen sie sich mit der gegenwärtigen weit verbreiteten Stimmungslage.
Paulus spricht in eine konkrete Situation hinein. Er entwirft also keine prinzipielle Lehre vom Staat. Das zeigt sich schon an dem verwendeten Vokabular. Es entstammt der damaligen Verwaltungssprache, aber nicht der Sprache antiker Staatsphilosophie. Darum fehlen auch wichtige Themen, wie z.B. die Fragen nach der Grenze und Gefährdung staatlicher Macht. Im gesamtbiblischen Zeugnis finden sich dazu wichtige Aussagen und Aspekte (Apg 5,29; Mt. 22,15-22; Offb 13 u.a.). Das Thema des Missbrauchs von politischer Macht greift die Predigt zumindest kurz auf.
Der Text hat noch eine zweite Stoßrichtung, die für unsere Gegenwart wichtig ist. Er wendet sich auch mit Nachdruck gegen jegliche religiöse Überhöhung und Überschätzung von Politik und politischer Obrigkeit. Sie stehen im Dienste Gottes. Als Diener sind sie nicht Gott, sondern klar von ihm unterschieden, ihm nach- und untergeordnet. Politik ist „ein weltlich Ding“ (Martin Luther) und politische Führer sind keine Erlöser. Aktuell ist zu beobachten, wie mit der Zahl der Krisen und großen Herausforderungen die Sehnsucht nach Lichtgestalten und politischen Heilsbringern zunimmt. Eine verführerische Sehnsucht, wie der Zulauf zu Populisten und Scharlatanen zeigt. Umso wichtiger ist, dass wir in unserer Verkündigung deutlich machen: Die große und einschneidende Wende zum Guten kann und wird allein Gott heraufführen. Diese Hoffnung sollen wir groß machen, damit sie in uns lebendig bleibt und wir nicht irdischen „Erlösern“ nachlaufen und dann in die Irre geführt werden.
Predigt
Liebe Gemeinde, Paulus eckt hier gewaltig an. Schon damals gehen seine Sätze einigen Mitchristen ganz gegen den Strich. Denn sie sind in ihrem Glauben so begeistert, dass sie sich „wie im Himmel“ fühlen. Über alles Irdische bereits erhaben. Sie sind überzeugt: „Staat und Steuern – das geht uns doch nichts mehr an. Wir sind Gott verpflichtet, aber die weltliche Ordnung hat uns nichts mehr zu sagen.“ Paulus widerspricht: „Ihr irrt! Auch die staatliche Macht steht im Dienste Gottes. Auch wir Christen sind auf einen funktionierenden Staat angewiesen. Hört auf, diesen zu verachten!“
I. Die christliche Freiheit und der Staat
Hier die „Freiheit eines Christenmenschen“ (Martin Luther) – dort die staatliche Ordnung: wie geht das zusammen? Auch für Paulus steht fest: Der Glaube an Jesus Christus hat befreiende Kraft. Wir sind nicht länger den Zwängen und Mächten dieser Welt ausgeliefert. Auch nicht unserem eigenen Ich. Christus ist unsere Mitte. Wir leben aus seinem Geist, aus seiner Kraft. Aber die Freiheit, die er schenkt, verbindet sich mit der Liebe. Die beiden gehören untrennbar zusammen. Das ist der Knackpunkt. Daran entzündet sich der Streit. Paulus will seinen Mitchristen, die voller Enthusiasmus sind, klarmachen: „Wenn ihr meint, schon im Himmel zu schweben, wenn ihr nur um eure eigene Glückseligkeit kreist, dann verratet ihr die Liebe. Hier in dieser unvollkommenen Welt habt ihr eure Freiheit zu bewähren. Hier müsst ihr mit anderen auskommen. Hier gibt es die staatliche Ordnung, die ihr zu respektieren und zu achten habt.“ So holt Paulus seine Mitchristen unsanft auf die Erde zurück. Mit Nachdruck betont er, dass die staatliche Herrschaft ein Segen ist. Denn sie hat von Gott einen Auftrag erhalten, der allen, auch den Christen zugutekommt. Die staatliche Macht, ihre Gesetze und Organe sollen ein gedeihliches Zusammenleben in dieser Welt ermöglichen, indem sie das Gute fördern und das Böse nach Kräften verhindern. Darum ist die staatliche Ordnung für Paulus eine Wohltat Gottes. Wenn es sie nicht gäbe, käme die Liebe hoffnungslos unter die Räder. Alles ginge drunter und drüber. Es herrschte das Recht des Stärkeren. Die Schwächeren hätten das Nachsehen. Solche Zustände können Christen – auch um der Liebe willen – nicht wollen. Darum ist es für Paulus sehr wohl mit der christlichen Freiheit vereinbar, die staatliche Ordnung anzuerkennen und zu respektieren.
II. Wider die Verachtung von Politik und Politikern
Paulus sticht mit seinen Aussagen auch bei uns in ein Wespennest! Denn sie passen so gar nicht zur Stimmung im Land. Bei uns hat sich der Blick verengt auf das Negative. Alle meinen zu wissen, was hier schlecht läuft, aber kaum einer weiß noch das Gute zu schätzen. So viel Nein war selten. Und die Wut ist groß. Aber auch gefährlich. Unfassbar, was Menschen erleben, die in öffentlichem Auftrag unterwegs sind, wie etwa Feuerwehrleute, Rettungssanitäterinnen oder Polizisten. Was wäre unser Gemeinwesen ohne sie! Sie hätten unsere Hochachtung verdient. Stattdessen werden sie bei Einsätzen oft angepöbelt, behindert, attackiert. Und wie viel Häme und Hass erfahren unsere Politiker tagtäglich. Das bringt unsere freiheitliche Demokratie in Gefahr.
In dieser Situation kommt unser heutiger Predigttext wie gerufen. Er hat uns Wichtiges zu sagen. Er kann unseren verengten Blick wieder weiten. Wir können ihn so aktualisieren: „Haltet inne. Wisst ihr eigentlich, was euch geschenkt ist mit einer weithin intakten staatlichen Ordnung? Wenn ihr krank werdet, könnt ihr auf ein Gesundheitssystem zurückgreifen, das zu den besten in der Welt gehört. Milliarden Menschen auf der Erde würden euch darum beneiden. Wenn euch Unrecht geschieht, könnt ihr selbstverständlich euer Recht einklagen. Vergesst die nicht, die in einer Diktatur leben – vollkommen rechtlos. Wenn euch materielle Armut droht, dann ist unter euch ein soziales Netz gespannt. Entdeckt in all dem auch Gottes Fürsorge für euch!“
Paulus schrieb damals an die Gemeinde in Rom: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes“ (Röm 12,2). Das ist auch uns gesagt.
Mit dem Geist des Niedermachens kommen wir nicht durch diese schwierigen Zeiten. Wir brauchen einen anderen Geist: Zukunftsmut statt Untergangsstimmung. Bereitschaft zum Kompromiss statt im Empörungsmodus zu verharren. Gemeinsame Suche nach Lösungen statt Spaltungen zu vertiefen. Gott will uns diesen neuen Geist schenken. Ja, Gott setzt auf uns. Er will – auch durch uns! – der vergifteten Stimmung im Land etwas entgegensetzen.
Paulus spricht zwei konkrete Punkte an: „Gebt Ehre, dem die Ehre gebührt.“ Damit sind auch unsere Politikerinnen und Politiker gemeint. Würdigen wir eigentlich, was sie leisten? Sie nehmen ja einen Auftrag Gottes wahr, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Und indem sie sich für unser Land einsetzen, nehmen sie viel auf sich. Tagtäglich setzen sie sich öffentlicher Kritik aus. Sie eilen wahrlich nicht von Erfolg zu Erfolg, sondern müssen um mühsame Kompromisse ringen. Bei aller Kritik, die wir haben mögen – sie darf nicht in Verachtung umschlagen. Paulus trifft den Nagel auf Kopf: Kein Mensch kann ohne Anerkennung leben. Auch unsere Politiker nicht. Sie haben unseren Respekt und unsere Achtung verdient.
Noch ein heißes Eisen packt Paulus an: „So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt…“. Damit fragt er uns ganz unverblümt: „Zahlt ihr eigentlich eure Steuern?“ Und sagt klipp und klar: Steuerflucht und Steuerhinterziehung - nicht mit uns Christen! Trotzdem seufzen wir manchmal angesichts der Steuerlast. Dann hilft es, sich klar zu machen: Damit tragen wir mit dazu bei, unseren Sozialstaat zu erhalten. Ein Blick in andere Weltgegenden lehrt uns, welch hohes, schützenswertes Gut er ist. Darum ist Steuerbetrug kein Kavaliersdelikt. Er untergräbt die staatlich organisierte Solidarität zwischen Starken und Schwachen.
Exkurs: Der Missbrauch politischer Macht
Dieses Thema können wir heute nicht ganz ausklammern, auch wenn es Paulus hier nicht behandelt. Aber sonst in der Bibel spielt es eine große Rolle. Machtmissbrauch ist die Urerfahrung des Volkes Israels. In Ägypten sind sie Sklaven: rechtlos, geschunden, ausgebeutet. Aber Gott nimmt das nicht hin. Er führt sein Volk in die Freiheit. Doch das Problem bleibt auf der Tagesordnung. Denn Menschen sind gefährdet, von Machtgier überwältigt zu werden. Israel wird ein Staat und sein Volk Israel will auch einen König. Gott bleibt skeptisch. Kann diese Machtfülle in einer Person gut gehen? Es geht oft nicht gut. Könige und reiche Eliten missbrauchen ihre Macht auf Kosten der Armen. Wieder schreitet Gott ein – und schickt seine Propheten. Gott will auch heute, dass Macht kontrolliert und begrenzt wird. Welch ein Segen, dass wir in einer Demokratie leben und nicht in einer Diktatur! Wissen wir das noch? Bei uns kann ein Politiker ohne Gewalt, sprich: durch Wahlen wieder von der Macht entfernt werden. Für Menschen in der Diktatur ist das unvorstellbar. Darum können wir die paulinische Aufforderung: „Seid untertan der Obrigkeit“ so für heute aktualisieren: „Sagt ein entschiedenes Ja zur Demokratie. Schützt und stärkt sie
III. Wider die Überschätzung von Politik und Politikern
Verachtung der einen und Überhöhung der anderen geht oft Hand in Hand. Das ist auch in unserer Zeit zu beobachten. Denn mit den Krisen in der Welt steigt die Sehnsucht nach einem irdischen Erlöser. Nach einem starken Mann. Der uns im Handstreich von der ganzen Problemlast befreit. So verständlich diese Sehnsucht ist, so verführerisch ist sie. Denn diese vermeintlichen Lichtgestalten haben die Menschen immer in die Finsternis geführt.
Paulus bezeichnet die Obrigkeit als „Dienerin Gottes“. Damit sagt er klipp und klar: Auch die Mächtigen stehen unter Gott. Sie sind keine Götter. Sie sind nicht unsere Heilsbringer. Und noch klarer spricht Gott zu uns durch das erste Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Damit schärft er uns ein: „Seid wachsam gegenüber denen, die sich als Heilsbringer ausgeben. Überprüfe deine Erwartungen an die Politik. Sind sie realistisch oder illusionär? In den Regierungen und Parlamenten sitzen keine Erlöser, sondern irdische Volksvertreter, fehlbar wie du selbst. Politik ist Teil dieser unvollkommenen Welt. Es ist viel, wenn sie diese ein klein wenig gerechter und menschlicher macht.“
Die große Wende zum Guten, liebe Gemeinde, die sollen wir allein von Gott erhoffen! Die Offenbarung (Kap. 21 und 22) gewährt uns einen ersten Blick auf die neue Stadt Gottes. Johannes beschreibt ihre Häuser und Straßen als erleuchtet und transparent wie Glas. Offene Straßen und Plätze – da begegnest du Menschen, da gehörst du dazu, da spielt Musik, Lebensmusik. Und Einer mittendrin: Gott selbst! Kein Tempel und kein Königspalast, nein, die „Hütte Gottes“ ist nah bei den Menschen. Leben mit Gott – auf Tuchfühlung. All die Rätsel unseres Lebens – gelöst, erlöst. Und die Tore im himmlischen Jerusalem stehen immer offen (vgl. Offb 21,25). Die Gewalt hat ein Ende. Alle können sich ohne Angst bewegen. Dann - aber erst dann braucht es keine politische Herrschaft mehr. Amen