Forum Kirche und Theologie:
Kontroverses
Volker A. Lehnert
Zur theologischen Deutung des Todes Jesu – Gedanken zu Karfreitag
Die Kontroverse um die Interpretation des Kreuzestodes Jesu existiert seit Golgatha. War Jesus ein Aufrührer, ein Gotteslästerer, ein Häretiker, ein falscher Prophet, ein Menschenopfer, ein Justizirrtum oder was war er? Und wenn er das menschgewordene Wort Gottes war (Joh 1,14), wieso musste er dann sterben? Stimmt dieser Anspruch womöglich gar nicht? Oder ist Gott ein schwacher Gott? Aber wenn die Ohnmacht der Anker des Glaubens ist, worauf sollen Menschen dann eigentlich vertrauen und was überhaupt hoffen? Die Zelebration einer Niederlage dürfte wenig attraktiv für Menschen sein.
In besonderer Weise ist seinerzeit eine Kontroverse aufgebrochen anlässlich der Frage, inwieweit der Tod Jesu als ‚Sühnopfer‘ zu verstehen sei. Dabei lehnen die einen die Kategorie des Opfers leidenschaftlich ab und erklären sie als antik und überholt. Die anderen ontologisieren die Metapher, halten sie für unaufgebbar konstitutiv und für den christlichen Glauben unerlässlich. Was auffällt in dieser Kontroverse, ist die Undifferenziertheit, mit der sie geführt wird.
Erstens wird mit der Sühnekategorie meist etwas abgelehnt, das mit dem hebräischen Sühneverständnis nicht viel zu tun hat. Das Verständnis des Sühnopfers aus Lev 16 wird nämlich meist von zwei sachfremden Vorstellungen überlagert. Da ist einerseits ein vulgäres Menschenopferverständnis, als sei Jesus die Besänftigung eines erregten Gottes gewesen. Dann hätte sich ein Mensch hingegeben, um den Zorn eines aufgebrachten Gottes abzuwenden. Der Adressat des Versöhnungshandelns Jesu im Kreuz wäre dann Gott, der Handelnde wäre der Mensch – für Karl Barth ‚Religion‘ im schlechtesten Sinne. Dabei wird verkannt, dass es sich in Lev 16 genau umgekehrt verhält. Hier ist Gott nicht Adressat, sondern selber das Subjekt des Opfers, das Er von sich aus veranlasst und den Menschen zu Gute kommen lässt als ultimative Möglichkeit, frei von der Sünde zu werden. Diesen Aspekt des Subjektseins Gottes nimmt Paulus in 2Kor 5,19 auf:
„Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber“.
Zu beachten ist allerdings, dass auch Paulus in 2Kor 5,19 den aus der Sühnevorstellung stammenden Gedanken, dass Gott Subjekt der ganzen Aktion ist, mit einer sühnefremden Kategorie verbindet, nämlich der der ‚Versöhnung‘. Diese stammt nicht aus der Sühnetradition, sondern aus dem Institut des hellenistischen Versöhnungsboten, der nach Überbringung einer guten Nachricht getötet wurde. ‚Sühne‘ und ‚Versöhnung‘ sind also zwei unterschiedliche Kategorien, die hier synchronisiert werden. ‚Sühne‘ ist somit keineswegs die alleinige Deutekategorie des Kreuzes Jesu.
Zweitens werden die vermeintlichen Belegstellen für die Deutung als ‚Sühnopfer‘ zu schnell und zu unkritisch als solche gelesen. Betrachten wir beispielsweise die berühmte Stelle in Röm 3,25:
„Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut...“.
Für ‚Sühne‘ steht hier im Griechischen der Begriff hilasterion. Dieser aber dient in der Septuaginta als Übersetzung des hebräischen Wortes kaporet, das in Lev 16 wiederum gerade nicht eines der Opfertiere – das Lamm, das das Heiligtum reinigt und den ‚Bock‘, der in die Wüste gejagt wird - bezeichnet, sondern den „Gnadenthron“ (Lev 16,13-16), den Deckel der Bundeslade, der die Thora schützt! Hier wären wieder zwei Deutungen möglich: Entweder reinigt das Blut Jesu, analog zum Lamm in Lev 16, das Heiligtum im Sinne einer Tempelreinigung, wobei unter ‚Tempel‘ dann wohl möglicherweise die Gemeinde zu verstehen wäre. Oder Jesus hätte nicht nur als Wächter über der Thora gewacht, sondern wäre – im Kontext von Röm 10,4 zugleich deren Erfüllung, ganz im Sinne von Matth 5,17. Zwar steht hier alles im Kontext der Sühnehandlung – dies dürfte unbestreitbar sein –, hilasterion meint aber kaum den Sündenbock aus Lev 16!
Drittens: Neben der skizzierten Kategorie der ‚Sühne‘ zieht das Neue Testament weitere, sehr unterschiedliche Interpretamente heran, um das Kreuz Jesu zu deuten. Hier einige Beispiele:
- Sklavenloskauf (Mk 10,45): Hier wird als Bild der Freikauf aus der Sklaverei benutzt. Der Tod Jesu erscheint als ‚Lösegeld‘.
- Passalamm (Joh 1,29; 1Kor 5,7): Wenn Jesus ‚Lamm Gottes‘ genannt wird, das die ‚Sünde der Welt trägt, so verweist dies auf die Exodustradition (Ex 12). Passalamm, Sühnopfer und Sündenbock aus Lev 16 sind aber drei unterschiedliche Dinge.
- Vernichtung einer Schuldurkunde (Kol 2,14): Dieses Bild stammt aus dem Finanzwesen. Eine Schuldverschreibung wird annulliert.
- Schicksal eines hellenistischen Versöhnungsbeamten (2Kor 5,19f): Boten, die Frieden zwischen zwei hellenistischen Städten herstellten, wurden manchmal nach Erfolg getötet.
- Prophetenmord (Lk 13,34): Eine alttestamtliche Tradition vom Widerstand gegen das Prophetentum.
- Böse Tat von Menschen (Mk 12,1-12): Menschen haben böse und destruktive Potenziale in sich, denen unschuldige Menschen ‚zum Opfer‘ fallen.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Mal sind die Menschen Subjekt der Kreuzigung, mal ist Gott der Initiator dieser Hingabe. Wichtig ist: Alle hier genannten Kategorien sind als jeweils eigenständige Deutungen des Todes Jesu nicht identisch mit ‚Sühne’ im Sinne von Lev 16. Es sind also bereits im Urchristentum unterschiedliche Modelle herangezogen worden, um die Kreuzigung Jesu zu deuten. Dies geschah, soweit wir sehen können, unter Berücksichtigung der Denkkategorien der jeweiligen Empfänger. ‚Sühne‘ nach Lev 16 war für die griechischen Mitglieder der Gemeinde in Korinth vermutlich keine aussagefähige Kategorie, der hellenistische Versöhnungsbeamte aber sehr wohl, ebenso das Bild des Schuldbriefes. Die wechselnden Interpretationen hängen also mit dem Übergang des Christusglaubens aus dem Judentum in das Griechentum zusammen. Wollte man in einem anderen Weltbild das Gleiche sagen, musste man es anders sagen.
Das versuchte u.a. auch Anselm von Canterbury (verst. 1109), als er die Kreuzigung mittels seiner ‚Satisfaktionstheorie‘ für germanisches Rechtsdenken zu plausibilisieren versuchte: Der Weg Jesu resultiert aus dem Bemühen Gottes, seine eigene Ehre wiederherzustellen, indem er sich selbst als Mensch Genugtuung verschafft.
Was gilt nun?
Exegetisch ist zu unterscheiden zwischen der Sühnewirkung des Weges Jesu und der Kategorie des Sühnopfers als einer Deutung des Kreuzes in kultischer Metaphorik neben anderen. Passa ist nicht Sühne, Sklavenloskauf ist nicht Versöhnung, die Vernichtung eines Schuldbriefes ist nicht Prophetenmord und Prophetenmord ist nicht Genugtuung.
Aber: Was alle diese Kategorien, heute würden wir vielleicht sagen ‚Denkmodelle‘, gemeinsam haben ist das, was die Reformatoren als das ‚pro nobis’, das ‚für uns’ bezeichnet haben. Es ist in Christus etwas Ultimatives, etwas Heilsames für die Welt geschehen, nicht nur im Sinne eines ethischen Vorbildes (exemplum), sondern im Sinne einer Gnadenwirkung für die Menschen (sacramentum). Genau dies verbirgt sich auch in den unzähligen ‚für uns’-Formeln, die sich im Neuen Testament finden. Das Sühnopfer ist daher nur eine biblische Deutungsmöglichkeit des Kreuzes, die vor allem der Hebräerbrief entfaltet. Das ‚pro nobis’ aber, also Sühne im Sinne der Entsorgung unserer Sünde (Matth 26,28; 1Joh2,2; 1Petr 2,24), als der Überwindung der negativen und destruktiven Dynamiken des Menschseins und, wenn man so will, als eine Wurzelbehandlung Gottes an der Welt, bleibt eine der konstitutiven Grundaussagen des Evangeliums. In diesem zentralen theologischen Sachverhalt konvergieren die Hauptakzente der unterschiedlichen metaphorisch herangezogenen Deutekategorien.
Daher: Im Kreuz Jesu fordert Gott zunächst nichts von uns, sondern er hat etwas für uns bewirkt, nämlich alles entsorgt, was zwischen uns und IHM steht. Frei nach Martin Luther: Gott hat in und durch Christus die Dimension der Sünde auf sich genommen und uns dafür mit seiner Gerechtigkeit bekleidet. In der Taufe „ziehen“ wir Christus, den neuen Menschen „an“ (vgl. Eph 4,24). Luther nannte dies den „fröhlichen Wechsel“ (vgl. 2Kor 5,21; Röm 6,1-14). Dadurch hat Gott ein Tor geöffnet zu ihm zurück, gleichsam vorbei an den ‚Cherubim‘, die bislang den Rückweg nach Eden bewacht haben (Gen 3,24). Dies hat Konsequenzen bis hin zur Überwindung des Todes, wie sie der ‚dritte Tag‘ realisiert hat.
Einen eindrücklichen Versuch, diesem Zusammenhang eine anschauliche neuzeitliche Sprache zu geben, hat Eberhard Jüngel vorgelegt: Ursprünglich war der Tod ein Bereich außerhalb Gottes. Die Toten loben ihn nicht (Ps 6,6). Im Kreuz Jesu hat der menschgewordene Gott selber den Tod als einen Bereich in sich selbst aufgenommen, symbolisiert durch die Wundmale am Auferstehungsleib Jesu (vgl. Joh 20,24-29). Seitdem sterben die Menschen nicht mehr ins Nichts, sondern in Gott hinein – und leben in der Ewigkeit.
Der gekreuzigte Christus als sacramentum Gottes, als ultimativer Überwinder unserer Sünde und unseres Tod – darin besteht das Thema der Kirche.