Forum Kirche und Theologie:
Kontroverses
Volker A. Lehnert
Das unterschätzte Böse
Bereits die biblische Urgeschichte ging davon aus, dass in Gottes guter Schöpfung negative Dynamiken am Werk sind. Woher sie kommen, wird nicht erzählt. Woher stammt die Schlange in Gottes gutem Garten? Wurde die Versuchung des Menschen in die Schöpfung eingebaut? Erzählt wird jedenfalls, dass ‚Adam‘ (= die Menschheit) sich selbst als letzte ethische Instanz inszenieren möchte, und darin besteht eine Ursache allen Elends. In Gen 3 der Verlust des Gartens, in Gen 4 der Beginn des Tötens, in Gen 6 die Begrenzung der menschlichen Lebensspanne auf max. 120 Jahre, in Gen 6-9 die Auslöschung der Menschheit um Haaresbreite und in Gen 11 ein Anflug von Größenwahn.
Ja, würde der Mensch nur erkennen wollen, was „gut und böse“ ist, es wäre wohl segensreich. Ich verstehe Gen 3 aber so, dass hier der Mensch letztlich selbst bestimmen will, was gut und böse ist, und das scheint die Quelle vielen Übels zu sein.
Es wurde in der Geistesgeschichte viel spekuliert über die Frage des Bösen. Grundsätzlich sind, für menschliche Logik, verschiedene Modelle denkbar:
Denkmodelle des Bösen
Modell 1: Das Böse stammt aus der Tiefe der menschlichen Seele. So wie es gute Interessen, Triebe und Bestrebungen gibt, so gibt es auch böse. Die paulinische Liste der „Frucht des Fleisches“ in Gal 5,19-21 führt sie exemplarisch auf. Jesus formuliert ein solches Modell in Mk 7,21-23. Sigmund Freud schwankte im Rahmen seines Mehr-Instanzen-Persönlichkeitsmodells in Bezug auf die Relation zwischen Libido (Lebenstrieb) und Thanatos (Todestrieb) lange, bis er schließlich zu der Überzeugung gelangte, Thanatos sei dominant. Damit stand er beim Blick in die menschliche Seele vor einem Abgrund. Interessant ist, dass bereits Paulus vergleichbare Überlegungen hatte, wenn er davon spricht, „gefangen im Gesetz der Sünde“ zu sein (vgl. Röm 7,14-24). Augustinus wird später seine berüchtigte Erbsündenlehre daraus herleiten und von einer Art ‚Infektion‘ mit dem Bösen im Akt der Zeugung sprechen, wobei neben Röm 5,12 auch Ps. 51,7 Pate stand.
Modell 2: Das Böse stammt aus dem Jenseits. Religionsgeschichtlich ist dieses Motiv in alten persischen Traditionen zu finden. Neben einer guten Gottheit existiert auch eine widergöttliche Gegenmacht. Dieser Dualismus führt immer wieder zu Kämpfen in der himmlischen Welt, die sich in Katastrophen auf der Erde spiegeln, Kriege, Hungersnöte, Plagen etc.
In der biblischen Tradition blieb diese widergöttliche Gegenmacht in der Gestalt des Satans erhalten, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass dieser jetzt der Alleinherrschaft Gottes unterstellt wurde. Im Buch Hiob tritt Satan als ein Mitglied der himmlischen Engelstruppen auf, das von Gott explizit die Lizenz zur Versuchung des Hiob erhält (Hiob 1). Er ist also letztlich im Auftrag Gottes unterwegs – ein für heutiges theologisches Empfinden durchaus anstößiger Gedanke.
Modell 3: Ein drittes Denkmodell schreibt die bösen Dynamiken der menschlichen Freiheit zu. Gott habe den Menschen eben nicht als Marionette geschaffen, sondern mit einem freien Willen ausgestattet. Tut der Mensch Böses, ist es dessen freie Entscheidung. Darüber wurde in der Reformationszeit ein erbitterter anthropologischer Streit zwischen Luther und Erasmus ausgetragen. Letzterer vertrat die Freiheitsthese. Luther billigte dem Menschen zwar durchaus eine bedingte Freiheit zu, in letzter Instanz allerdings hielt er den Menschen für unfrei, auf jeden Fall aber in der Erlösungsfrage. Hier ist Gott in Christus das allein handelnde Subjekt. Kant und Schopenhauer haben das Problem sinngemäß so gelöst: Der Mensch ist frei zu tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will. Was jemand wirklich im Inneren will, selbst wenn er dies nicht wollen will, kann er doch nicht verhindern, dass es in ihm es doch will. Der französische Freud-Interpret Jaques Lacan hat dies als den „Anderen in mir“ tituliert, der als die berühmten „zwei Seelen in meiner Brust“ schon Goethe bekannt war.
Modell 4: Zeitgenössisch wird das Böse als Hinweis auf das Illusionäre des Gottesglaubens gewertet. Evolutionsbiologisch schlägt nach wie vor das alte darwinistische Paradigma des Stärkeren, der eben den Schwächeren fressen muss, durch. Die einfachste Erklärung für das Phänomen des Bösen, welches ja angesichts eines allmächtigen und ‚lieben‘ Gottes nicht existieren dürfte, besteht darin, anzunehmen, dass es gar keinen Gott gibt. Damit wäre auch die leidige Theodizeefrage erledigt, denn ein Gott, den es nicht gibt, braucht auch nicht gerechtfertigt zu werden.
Modell 5: Der erwähnte Versuch des Hiobbuches, Gott die Lufthoheit auch über das vermeintlich Böse zu überlassen, prägt bei genauem Hinsehen weite Linien alttestamentlicher Theologe. Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit. Hanna singt: „Gott tötet und macht lebendig“ (1Sam 2,6), Gott tötet fast die gesamte Menschheit (Gen 6-9), Gott schickt einen Lügengeist (1Kö 22,22). Die abendländische Rede vom ‚lieben Gott‘ hat den Blick auf diese Linien verstellt.
Neutestamentlich wird versucht, die hiob‘sche Subordination des Bösen unter Gott wieder in stärkere Differenz zu Gott zu rücken. Aber auch hier kommen die „teuflischen Pfeile des Bösen“ (Eph 6,16) aus den himmlischen Zwischenbereichen, also aus transzendenten Quellen. Darauf bezieht sich die Vater-Unser-Bitte „und erlöse uns von dem Bösen“, denn der Dativ dürfte im Nominativ maskulinum sein, also: „und erlöse uns vom dem, der der Böse“ ist. Assoziiert wird hier nicht nur eine Dynamik, sondern eher eine Macht.
Fünf Möglichkeiten, fünf Logiken, die letztlich aber nur zu einem Ergebnis führen: der philosophischen und theologischen Unerklärlichkeit des Bösen. Beschreiben lassen sich erlebbare Dynamiken des Bösen, dessen ontologischen Ursachen aber bleiben unerklärlich. Und selbst, wenn Darwin recht haben sollte, auch seine Erklärung bleibt Beschreibung. Warum alles ist, wie es ist, wusste auch er nicht wirklich.
Einige Dynamiken des Bösen
Bleibt uns also nur die Möglichkeit, nicht ontologisch, sondern allein phänomenologisch an die Frage des Bösen heranzugehen. Wo tritt es auf? Wie manifestiert es sich? Wo kleidet sich der Wolf in den Schafspelz (vgl. Matth 7,15)? Aber auch hier leiden wir an einer gewissen Trübung unseres Blickes, weil wir, von einem verklärten Humanismus geprägt, der Illusion erliegen, der Mensch sei eigentlich von Natur aus gut. Erstaunlich, wie man auf diese Idee kommen konnte. Unbenommen, die Menschheit würde nicht mehr existieren, wenn es nicht unermesslich viel Gutes in der Welt gäbe, unendlich viel Liebe, Hilfsbereitschaft, Kultur bis hin zum Altruismus. Wer wollte das bestreiten?
Aber der Mensch ist eben nicht nur gut: Kulturanthropologisch lassen sich die ersten Kriege und Überfälle auf Nachbarn schon bis zum Beginn der Sesshaftwerdung der Menschen nachverfolgen. Wer Ackerbau betrieb, musste arbeiten. Wer den Ertrag raubte, wurde schneller satt. So einfach war das wohl. Wer sich auch nur oberflächlich mit der Menschheitsgeschichte befasst, stößt ständig auf Kriege und Schlachten: Germanen, Römer, Menschenopfer, Gladiatorenkämpfe, christliche Kreuzzüge, islamische Eroberungen, Bauernkriege, 30-jähriger Krieg, preußische Kriege, napoleonische Kriege, Apartheid, stalinistische Säuberungen, Rassenwahn, Weltkriege, Holocaust, Euthanasieprogramme Vietnamkrieg, Irakkriege, Ukrainekrieg, Gazakrieg, Folter, Tötung Ungeborener, sexueller Missbrauch, Kindesmisshandlung, Antisemitismus, Terror und einschließlich der virtuellen Lust daran mittels brutalster Ballerspiele und Horrorszenarien, denen wir dank der Digitalisierung bereits Kinder und Jugendliche aussetzen. Die Liste ist schier unendlich. ‚Die Welt ist ein Schlachthaus‘, hat Schopenhauer geschrieben. Das Böse tobt sich aus. Immer wieder und überall.
Das vermeintlich Gute ist auch nicht immer nur gut: Paulus beschreibt in Röm 7,11 ein paradoxes Phänomen: Die Sünde nimmt das gute Gebot zum Anlass, um uns zu betrügen! Gemeint ist, dass wir im Glauben und der festen Überzeugung etwas Gutes zu tun, genau dadurch negative Dynamiken produzieren. Ein Beispiel ist Lk 10: Der Priester und der Gesetzeslehrer gingen an dem unter die Räuber Gefallenen vorbei, weil das Gesetz ihnen verbot, sich am Blut eines Toten zu verunreinigen. Ausgerechnet die Befolgung des Gebotes hätte hier um ein Haar zum Tode des Verletzten geführt.
Heute findet sich eine solche paradoxe Dynamik im sanften Zwang zu einer vermeintlichen political correctness. Nehmen wir als Beispiel das in Verruf geratene Wort ‚Mohr‘. Ursprünglich hieß es nichts anderes als ‚Maure‘. Mauren waren häufig exzellenter kulinarischer Künste fähig. Wer einen Mauren, also einen ‚Mohr‘ angestellt hatte, beschäftigte somit eine Art ‚5-Sterne-Koch‘. Der Begriff stellte also ein Ehrenprädikat dar. Dies ist der Grund, weshalb eine namhafte Schokoladenfirma den ‚Mohr‘ zu ihrem Symbol erkoren hatte. Als irgendjemand auf die Idee kam, diesem Wort eine negative Konnotation zuzuschreiben, unterstellte er allen, die dieses Wort weiterhin gebrauchten, Diskriminierung. Die Spitze war eine Episode irgendwo in Norddeutschland. In einem Lokal mit dem Namen „Zum Mohrenkopf“ wurde der dunkelhäutige ‚Kellner‘ darauf angesprochen, dass dies diskriminierend sei und man den Inhaber sprechen wollte. Als der vermeintliche Kellner antwortete, er sei der Inhaber und er wolle, dass sein Lokal so heißt, verlangte man den ‚eigentlichen‘ Inhaber. Peinlich, hier erfolgte Diskriminierung gerade durch eine selbsternannte Antidiskriminierungsstasi.
Diskriminierende Sprache zu vermeiden, ist zweifellos eine gute Absicht. Allen, die ein von Haus aus aber gar nicht diskriminierendes Wort in bester Absicht gebrauchen, plötzlich Diskriminierungsabsichten zu unterstellen, produziert die angebliche Diskriminierung überhaupt erst, obwohl sie gar nicht vorhanden ist, allein durch die Behauptung, sie sei da. Die Hermeneutik des Verdachts bestätigt den Verdacht auf dem Wege der ‚sich selbst erfüllenden Prophezeiung‘. Auf diese Weise wird das Böse, das verhindert werden soll, durch ideologische Bevormundung überhaupt erst produziert oder zumindest behauptet. Dies ist die Dynamik von Röm 5,11 - bis heute beobachtbar.
Neues Böses wird erfunden: Und was ist eigentlich davon zu halten, dass in neuester Zeit ernsthaft erwogen wird, Kindern und Jugendlichen Zweifel über ihr biologisches Geschlecht einzuflößen und aus diesem Grunde sogar chemische Pubertätsblocker zu empfehlen, damit sie sich klar werden, ob sie nun Mann oder Frau oder irgendetwas anderes sein wollen? Wie verrückt will man junge Menschen auf der Suche nach ihrer Identität machen? Im Gegenzug werden Wissenschaftler des Faches Biologie von Universitätsvorträgen ausgeschlossen, wenn sie darauf hinweisen wollen, dass es biologisch nach wie vor zwei Geschlechter gibt und anderslautende Modelle Konstruktionen außerhalb der Biologie sind, intersexuelle Phänomene (ca. 1 Fall auf 4500 Geburten) ausgenommen. Das ist nicht weniger als eine Unterdrückung wissenschaftlicher Diskussion an der angeblich freien Hochschule. Man könnte auch sagen, hier findet Diskriminierung der Meinungsfreiheit statt. Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun. Übrigens heißt der Teufel im Griechischen „Diabolos“, der „Verwirrer“ oder „Durcheinanderbringer“.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen. Sie zeigen, dass gut Gemeintes und von der Intention her Berechtigtes ganz schnell in das eigene Gegenteil umschlagen kann. Die Dynamik des Bösen beinhaltet Paradoxien und Ambivalenzen. Davon spricht Röm 5,11. Genau dies wird immer wieder unterschätzt oder verkannt. Die Ursachen des Bösen lassen sich ontologisch wohl nicht ergründen. Vermutlich hat Karl Barth recht, wenn er schreibt, es gibt nicht nur die Schattenseiten des Lebens, sondern es gibt auch eine Nachtseite der Welt. Das Böse lässt sich nur beobachten, tritt allerdings immer wieder auch getarnt im Gewand des vermeintlich Guten auf, im „Schafspelz“ eben. Dies gilt es zu durchschauen.
Hier, in der Aufdeckung gegenwärtiger Schafspelze, läge eine wichtige Aufgabe für die Christenheit. Dies wäre meines Erachtens die angemessene Entsprechung zu unserem Gebet: „und erlöse uns von dem Bösen“…
Dr. Volker A. Lehnert ist Leitender Dezernent für
Personalentwicklung der EKiR, LKA Düsseldorf
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